Bis zur letzten Silbe

Claus Peymann inszeniert Shakespeares „Macbeth“ am Wiener Burgtheater  ■ Von Dieter Bandhauer

Daß er einen Menschen „vom Nabel bis zum Kinn“ aufgeschlitzt habe, ist die erste Nachricht, die uns Shakespeare über Macbeth zukommen läßt. Am Ende — es herrscht wieder Krieg in Schottland — ist Macbeth selbst das Opfer: Sein „verhaßter Kopf“ wird auf eine Stange gesteckt. Dazwischen liegt die Zeit des Friedens — in der das Morden weitergeht. Als wäre der Frieden die Fortsetzung des Krieges mit denselben Mitteln, aber bei geändertem Bewußtsein: Aus gedankenlosen Helden werden bewußte Mörder.

Macbeth nun gerät nicht mit dieser gesellschaftspolitischen Schizophrenie, also mit der Gesellschaft, in Konflikt, sondern — da sie auch seinem eigenen Bewußtsein entspringt — mit sich selbst. Dies ist seine Tragik und der Grund für unser Mitgefühl, trotz seiner Monstrosität. „Schlimmer als der Mord selbst ist der Gedanke an den Mord“ — heißt es bei Jan Kott. Insofern ist Macbeth ein Opfer seiner Gedanken, seiner Skrupel.

Wenn der blutige Mann gegen Ende der Tragödie bekennt: „Ich habe fast den Geschmack der Angst vergessen“, so ist dies nicht nur Ausdruck eines Abstumpfungs- und Verrohungsprozesses, sondern vielleicht Ausdruck der Erleichterung, dorthin zurückgekehrt zu sein, von wo er anfangs kam: dem Krieg, wo man töten darf, ohne denken zu müssen. Doch ohne die Seite gewechselt zu haben, steht Macbeth diesmal auf der falschen Seite. Dies aber ist bereits jenseits seiner Tragik, gehört vielmehr zu jenem Mechanismus, den eine der Hexen ganz zu Beginn, scheinbar paradox, so definiert: „Wenn die Schlacht verloren und gewonnen ist.“

Gert Voss gelingt in Claus Peymanns Inszenierung das ebenfalls paradox anmutende Kunststück, eine Figur zu gestalten, an der die Ereignisse nicht spurlos vorübergehen, und die doch unverändert bleibt. Voss legt seinen Macbeth nicht interpretatorisch zwischen Opfer und Mörder, Barbar und Neurotiker fest, und hält sich dennoch alle Möglichkeiten offen. Er erweckt Shakespeares Text zum Leben — und erst über diesen Umweg die Figur. Das Ergebnis ist das quälende Ringen eines Mannes ohne Eigenschaften um jede Silbe.

Was Macbeth über die Zeit sagt, könnte auch als Motto für Peymanns Inszenierung gelten, die den Titelhelden noch mehr ins Zentrum des Geschehens stellt, als es das Stück ohnehin verlangt: Die Aufführung „kriecht dahin in diesem kleinen Schritt bis zur letzten Silbe der aufgezeichneten Zeit“. Bewegung kommt immer nur mit den anderen Figuren ins Spiel: mit Martin Schwab und Ignaz Kirchner, mit Uwe Bohm und Urs Hefti. Doch ihre Zeit ist zu kurz bemessen, um der Kurzweil Dauer zu verschaffen.

Vor Voss' grandiosem und enervierenden Macbeth-Selbstfindungsprozeß finden wir so nur Trost in Kirsten Denes Spiel als Lady Macbeth, die weiß, was sie will, und kann, was sie will. Von Shakespeare ziemlich abrupt in den Wahnsinn gestoßen, nötigt Denes traumwandlerischer Auftritt dem den Wahnsinn protokollierenden Arzt (Hermann Schmid liefert eine subtile Studie eines selbst leicht Verwirrten) das Eingeständnis ab: „Dies... ist jenseits meiner Kunst.“

Ansonsten entfaltet Peymann rücksichtslos in dem von Thilo Reuther entworfenen dunklen Raum mit hellem Bretterboden „den ganzen Macbeth“ ohne wesentliche Kürzungen und interpretatorische Erleichterungen, so daß sich Brechts Diktum, Shakespeare sei „von Natur unklar“, gewissermaßen von selbst bewahrheitet. Den Gegnern des Regietheaters, des frühen Peymann also, fällt der Burgtheater-Direktor nun derartig mit der Tür ins Haus der Werktreue, daß er ihnen wiederum nicht willkommen ist.

Alle Schrecknisse eines pietätlosen Umgangs mit Klassikern hat Peymann hingegen in eine Szene verbannt und gebannt. Gerhard Ernsts Auftritt als Pförtner fällt in der Burgtheater-Aufführung gleich dreimal aus dem Rahmen: Die Szene spielt im Wien der Gegenwart; sie benützt den politischen Holzhammer; und sie ist nicht von Shakespeare, sondern von Peter Turrini.

William Shakespeare: Macbeth. Burgtheater Wien. Regie: Klaus Peymann. Bühne: Thilo Reuther. Kostüme: Moidele Bickel. Nächste Aufführungen: 24. und 25.2.