Erich Mielke: „Mein Hut ist geklaut!“

Vor den Schranken des Moabiter Kriminalgerichts steht weder der linksradikale Arbeitslose noch der tenebre Herr der Spitzel und Wanzen/ Dort kauert ein Greis, der an „Dekompensation nach Verlust des Arbeitsplatzes“ leidet  ■ Aus Berlin Götz Aly

Die gestrige Montagsvorstellung im Saal 700 war kaum noch ausverkauft und ungewöhnlich knapp: Nach 35 Minuten unterbrach Prozeßintendant Dr. Theodor Seidel (von der 'Zeit‘ neuerdings liebevoll „Theo“ genannt) die Moabiter Historienposse bis zum nächsten Montag. Der in der Doppelrolle des Kannitverstan und des Eingebildeten Kranken großartige Erich Mielke spielte den Ungehaltenen, fehlte ihm doch sein wichtigstes Requisit. „Man hat mir“, maulte er aus den Tiefen der Versenkung, „meinen Hut geklaut.“ Zweimal hustete er sodann, einmal wurde ihm der Blutdruck gemessen und ein internistisches O.K. über die Rampe gerufen. So könnte man die Hauptverhandlung gegen Erich Mielke beschreiben, ginge es wirklich um eine Posse. Tatsächlich geht es um die realdemokratische Deformation des Rechts.

Bekanntlich ist in Berlin-Moabit nicht jenes Ekel aus dem Nachtreich des Bösen angeklagt, das man als tenebren Herrn Tausender Agenten, Hunderttausender Spitzel und Wanzen kennt. Die Berliner Justiz hat mit der Anklage gegen diesen Mann merkwürdige Schwierigkeiten. Systematisches staatliches Unrecht scheint ihr eher Beißhemmungen als zupackende Anklagelust zu verursachen. Lauschangriffe, illegale Überwachungen, Vertrauensbrüche, permanente Verletzung der Intimsphäre im Namen eines angeblichen Staatswohles, Provokationen und Straftaten als geheimdienstliche Mittel der Politik — all das ließ Mielke in extensiver Weise praktizieren. Und doch sind das alles Mittel und Methoden, die es auch in modernen demokratischen Staaten gibt: wesentlich seltener, kontrollierter, nicht immer wirklich kontrolliert — es gibt sie. Eine Verurteilung Mielkes wegen solcher Delikte wäre nicht uninteressant. Dieses Urteil würde immer auch in die Zukunft weisen.

Zwar kündigte 'Bild‘ gestern insistierend an: „Neuer Mielke-Prozeß: Jetzt endlich als MfS-Chef!“, aber die Justizpressestelle wollte von einem solchen Verfahren nichts wissen. Es steht zu vermuten, daß die engagierten Verteidiger der Bürgerrechte, die Opfer des Systems „Stasi“ noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf eine Anklage warten werden, die die Systematik staatlich-bürokratischer Unterdrückung zum Gegenstand öffentlicher Verhandlung macht. In einem solchen Prozeß wäre nicht Mielke allein anzuklagen, sondern auch seine Mittäter, Berater und Exekutoren.

Vereinfachung der Rechtspflege

Bislang jedenfalls weicht die Berliner Justiz aus. Sie ist in der Bredouille. Und daher wirft sie dem geneigten Publikum — egal wie — einen der „Großen“ vor. Nicht nur mit Hilfe einer fragwürdigen Anklageschrift aus dem Jahr 1934, sondern auch noch mit Hilfe eines offenbar rechtswidrigen Haftbefehls aus dem Jahr 1947. Dieser Haftbefehl, der nach den Worten des Mielke-Verteidigers Hubert Dreyling von einem falschen Gericht ausgestellt wurde, wurde noch nicht einmal — wie zwingend erforderlich — von einem Richter, sondern von einem sogenannten Hilfsrichter unterzeichnet— entsprechend dem Führererlaß zur „Vereinfachung der Rechtspflege im Kriege“ aus dem Jahr 1942.

Statt des Mannes, der den Staat intim und Intimität staatlich machte, steht also ein anderer vor Gericht. Ein 23jähriger, noch unreifer Arbeitsloser aus dem Berliner Wedding. Von Rechts wegen stünden zumindest mildernde Umstände, wie sie das Jugendstrafrecht für den noch ungefestigten, sogenannten „jungen Erwachsenen“ ermöglicht, zur Diskussion. Alles, was der Namensvetter dieses Angeklagten später verbrach, steht nicht zur Debatte. Formalrechtlich haben die beiden Herren mit demselben Namen, Geburtsdatum und Fingerabdruck nicht das geringste miteinander zu tun. Biographisch gesehen mögen die Erlebnisse und Taten des Jüngeren Schlüsselereignisse für den weiteren Lebensgang des Älteren gewesen sein. Juristisch ist das irrelevant.

Doch die Lage ist noch unübersichtlicher. Auf der Anklagebank wackelt ein Dritter mit dem Kopf: noch nicht mal der Schatten des jugendlichen oder erwachsenen Mielke. Dort versteckt sich, murrt und brabbelt ein hospitalisierter Greis; ein gebrochener, selbstmitleidiger, vernagelter deutscher Mann. Gebrochen nicht seines Alters wegen, sondern weil ihm die Insignien der Macht entrissen wurden, weil er ohne Schreibtisch und Befehlsgewalt, ohne Spießgesellen und Satrappen, ohne Uniform und Orden noch nicht mal zum harmlosen Opa von Nebenan taugt, sondern bestenfalls zum ideologischen Pflegefall. In den medizinischen Gutachten, die der Verteidiger Gerd Graupner gestern in den Prozeß einführt, liest sich das etwa so: Der Patient leidet an einer reaktiven Depression aufgrund des „Zusammenbruchs seiner politischen und sozialen Werte“, seine (überdurchschnittlichen) Altersgebrechen waren bis zum Herbst 1989 „in seinem Arbeitsmilieu kompensiert“, danach „trat Dekompensation durch den Verlust des Arbeitsplatzes ein“. Seine depressive Grundstimmung habe sich durch den „Sturz vom Ministerposten in die Untersuchungshaft“ erheblich verstärkt, da der Patient „mit einer vollständig negativen — nicht mehr korrigierbaren— Lebensbilanz konfrontiert“ sei. Eben deshalb, so sagen die Gutachter, „ist es ausgeschlossen, daß er ein langwieriges Verfahren durchstehen kann“.

Den arbeitslosen Jungarbeiter und überzeugten Kommunisten aus den Hinterhöfen der Stettiner Straße können die Prozeßbeteiligten in der panzerglasgesicherten Schattengestalt noch nicht einmal erahnen. Was bleibt, ist der Versuch realistischer Spekulation: Der 23jährige Mielke wird einer von vielen gewesen sein, einer, für den die Hoffnung auf ein besseres Leben identisch war mit dem Sieg des Kommunismus über die verrotteten, krisengeschüttelten Verhältnisse der Zeit; einer der in der Kommunistischen Partei Heimat und Orientierung fand, auf linksradikalen Aktionismus abfuhr und dem— das wäre noch individuell zu klären — jedes Mittel „revolutionärer Gewalt“, jedes Mittel einer kruden „Propaganda der Tat“ recht war im Kampf um seine gesellschaftliche Utopie. „Links, links, links“, sang der, „hier wird nicht gemeckert, hier gibt es Dampf, denn was wir spielen ist Klassenkampf — nach blutiger Melodie.“ Moderner ausgedrückt: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“

Anklage von 1934 stellt falsche Fragen

Angeklagt ist eine „exemplarische Aktion“ gegen zwei „Bullen“. Jene Mordtat, der die Polizeioffiziere Franz Lenck und Paul Anlauf an einem schwülen Sommerabend des Jahres 1931 auf dem Berliner Bülowplatz zum Opfer fielen. Daß am Tag vorher ein Arbeiter am selben Ort erschossen wurde und die zahlreich auf dem Platz vor der KPD-Zentrale postierten Polizisten unmittelbar nach dem Mord an ihren beiden Kollegen in die Menge feuerten und zwei Unbeteiligte, den Kaufmann Stern und ein Kind, tödlich getroffen niederstreckten, davon spricht man heute sowenig wie im Jahr 1934.

Angeklagt könnte mit Hilfe dieses Prozeßstoffs heute ein Denken sein, das das Leben des einzelnen den großen Zielen unterordnet, Menschenleben im Namen einer besseren Welt— oder auch im Namen der Staatsräson — geringachtet, opfert und zerstört. Für die Folgen dieses Denkens stehen die bekannten und die namenlosen Opfer des damaligen deutschen Bürgerkrieges. Dafür steht auch die Nebenklägerin Dora Zimmermann, die heute in der Hauptverhandlung gegen Erich Mielke auf der Seite der Staatsanwaltschaft sitzt. Im Alter von elf Jahren verlor die heute 71jährige Ostberlinerin damals ihren Vater Paul Anlauf; sie und ihre beiden Geschwister wuchsen als Vollwaisen auf, die Mutter war drei Wochen zuvor gestorben. Für diese Frau gibt es eine plausible und gerechtfertigte Kontinuität, die es für das Gericht nicht geben darf: „Ich wußte“, so sagt sie, „daß er der Mörder meines Vaters war. Es war schlimm für mich, als er nach dem Krieg seine widerwärtige Karriere machte.“ Dora Zimmermann überreichte gestern den Tschako genannten Polizeihelm ihres Vaters zum Beweis dafür, daß er hinterrücks durch einen Kopfschuß ermordet wurde. Sie widerlegte damit die Behauptung des Verteidigers Jürgen Wetzenstein-Öllenschlager, der am ersten Verhandlungstag vorgetragen hatte, Anlauf sei von vorne — also nicht heimtückisch — erschossen worden.

Aber die Fragen, die Dora Zimmermann zu Recht stellt, die die Nachkommen des Kaufmanns Stern und der anderen auf dem Bülowplatz erschossenen Menschen stellen könnten, wurden in der Anklageschrift des Jahres 1934 selbstverständlich nicht gestellt. Vielmehr wurde kommunistische Gewalt angeklagt als Popanz, als Rechtfertigung für die Megagewalt des neuen nazistischen Deutschlands. Dieser Prozeß war Teil einer innenpolitischen Strategie des Ausschaltens. Es ging damals gerade nicht darum, Gewalt als verwerfliches Mittel der Politik per Schwurgerichtsverfahren zu diskreditieren. Auch deshalb — und jenseits der Frage nach den damaligen Ermittlungsmethoden — dürfte die Anklageschrift von 1934 heute keine Verwendung mehr finden.