Graham Swift:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Lieber Salman,

drei Jahre sind vorbei, und wer dich verteidigt hat, mußte lernen, nicht zu häufig von der Sache der Literatur zu sprechen. Denn nicht Literatur ist das Thema; Deine Rechte als Bürger sind das Thema. Als Schriftstellerkollege sollte ich an Deinem Schicksal daher nicht stärker interessiert sein als jeder andere Bürger dieses Landes. Aber als Schriftstellerkollege fällt es mir leichter (wenn auch keineswegs leicht), mir vorzustellen, ich sei in Deiner Lage; als Freund fällt es mir schwerer — es ist unmöglich, Dich in eine bequeme Abstraktion zu verwandeln.

Aufgrund Deiner erzwungenen Isolierung entstanden viele solche abstrakte Salman Rushdies, monströs, zusammengemischt und verzerrt, Beispiele für die Unfähigkeit, sich daran zu erinnern, daß Du schließlich und endlich nur ein Mensch bist. Es war schmerzlich mitanzusehen, wie der Mann, den ich kannte, aus diesem und jenem Interesse bis zur Unkenntlichkeit verwandelt wurde.

Dasselbe gilt für Dein Buch. Das reiche und komplexe Werk, das ich gelesen und wieder gelesen habe, wurde zu einem bloßen Behältnis aufgeschnappter Gedanken, ein Argument, eine Vorstellung, eine Annahme, eine Formel, im schlimmsten Fall nichts als ein Name, dessen bloße Nennung ausreicht, einen Sturm des Vorurteils zu entfesseln. Vielleicht muß man also doch — und sei es nur um der Genauigkeit willen — für die Sache der Literatur eintreten, die sich immer gegen Abstraktionen richtet und immer auf der Seite der Komplexität aus Fleisch und Blut steht.

Vor fast drei Jahren schrieb ich einen Brief an eine englische Zeitung, in der ich die Literatur zum Angelpunkt Deiner Verteidigung machte — ich unterschied sie von Propaganda, von Dogmen und dem Streit von Argumenten und Annahmen. Vielleicht war ich naiv und in jenen frühen Tagen zu hoffnungsvoll; aber das schrieb ich damals, und ich sehe keinen Grund, es zu ändern: „Propaganda ist ein Instrument der Macht; Kunst ist ein Instrument des Lebens. Was immer die Satanischen Verse sonst sind oder tun, sie besitzen Leben: Energie, Erfindung, Farbe, Animation, Intelligenz, Humor, Fragen, Zweifel, Leidenschaft, Tempo: Leben. Über das Buch mögen viele streiten, die es nicht gelesen haben; aber wer es gelesen hat, sollte — was immer er sonst darüber denkt — zugeben, daß dieses Buch das atmet, was allen Menschen gemeinsam ist, und erst dann beginnen zu argumentieren. — Es ist leicht, einen Mann, den man nicht kennt, in etwas zu verwandeln, das er nicht ist. Es ist leicht, ein Buch, das man nicht richtig gelesen hat, in etwas zu verwandeln, das es nicht ist. Drei beklagenswerte Jahre sind vergangen, aber in diesem Brief an Dich möchte ich die Literatur feiern und Deinen Beitrag zu ihr ehren. Wie kärglich wäre die Literatur, würden alle Bücher aus ihr verbannt, die einmal Anstoß erregten; würden sie auf ewig den Generationen von Lesern vorenthalten, die ihnen schließlich den Respekt des Menschen vor dem Menschen zollten. Wie arm und gemein wäre eine Welt, die auf solche Weise ordnen und verordnen wollte.

Ich ehre Deinen Mut, ich sende Dir meine Liebe. Neben allem anderen, was ich Dir wünsche, entbiete ich Dir diesen Gruß eines Schriftstellers an einen Schriftsteller: Mögest Du viele, viele und mehr und mehr Leser haben.

Graham Swift

Aus dem Englischen von Meino Büning.