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»Überhaupt nichts zu sehen!«

■ »HALT! GRENZGEBIET!« — Ein Buch über das Leben im Schatten der Mauer

Wenn Frau B. aus Treptow erzählt: »Dann kam der 12. August, ich war mit meinem Sohn in Neukölln bei meinem Jugendfreund. Wir saßen im Garten... Da waren wir alle zusammen in Neukölln, man muß sich das mal vorstellen, am 12. August. Mein Junge sagte immer wieder: ‘Könnt Ihr meiner Mutter nicht Pech untern Hintern machen, daß sie hier nicht mehr wegkommt?‚ Ich hatte aber so eine Bindung an mein Elternhaus und überhaupt... also ich konnte mich nicht entschließen. Wir verabschiedeten uns dann relativ spät, es war vielleicht eins durch, morgens am 13. August... und so wahr ich hier sitze, es war nichts zu sehen, nichts zu hören, es war überhaupt nichts festzustellen.«

Und doch war da mal was: Eine Mauer mitten durch die Stadt. Seit knapp zwei Jahren ist sie jetzt so gut wie vollständig aus dem Stadtbild verschwunden, und schon kann man sich kaum noch vorstellen, wie es war — das Leben mit der Mauer. Besonders, wenn sie einem direkt vor der Nase stand.

Bevor alles vergessen ist, haben die Autoren Thomas Schulz und Falk Blask in Treptow Spurensuche betrieben: Was sie dabei eingefangen haben, ist nicht das ganz große Greuel stalinistischer Menschenverachtung, sondern ein Stück Alltag, der — auf östlicher Seite und direkt hinter der Mauer — trotzdem weiterging: Vom Lohmühlenplatz bis zur Kiefholzstraße zwischen Neukölln und Treptow lebte man fortan mit der Mauer auf du und du. Frau B.: »Ich wurde damals in meinem Bekanntenkreis beneidet, weil ich zwei Treppen wohnte. Denn wenn ich auf meinem Balkon saß, sah ich manchmal meine Angehörigen. Mein Sohn oder mein Bekannter standen manchmal... auf der anderen Seite des Kanals. Aber wehe, wenn man sich mal geäußert hat oder die Hand hob und winkte.«

Allerdings: Die Mauer kam nicht über Nacht. Und so beginnt das Buch mit der Nachkriegszeit und der besonderen Topographie Treptows: Neukölln und Kreuzberg waren die natürlichen Nachbarbezirke, und wer ins Zentrum wollte, fuhr wie selbstverständlich durch Kreuzberg, erst mit der Straßenbahn, später mit dem Bus. Frau B. über die fünfziger Jahre: »Später ging man dann über die Wiener Brücke. War natürlich herrlich. Man saß auf dem Balkon, trank Kaffee und ach Gott, jetzt ist die Kaffeesahne alle. Und gleich vis-a-vis war ein Kiosk auf der West-Seite, da konnte man sich dann was holen. Die Polizei hat das nicht gern gesehen, aber...« Nachgerade beschauliche Zustände im Vergleich zu dem, was folgen sollte, beschreibt der erste — und durchaus schwächere Teil des Buches: die Zustände auf dem Schwarzmarkt sind hinlänglich bekannt und brachten es schon zum Filmklassiker, wie in Billy Wilders Einszweidrei.

Das große Schweigen trat erst nach dem Mauerbau ein, von spektakulären Fluchtaktionen abgesehen. Von nun an hieß es im Osten aufräumen, und diese Säuberungsaktionen beschränkten sich nicht auf den unmittelbaren »Kontrollstreifen«, im Westen »Todesstreifen« genannt. Dahinter befand sich ein weiterer 100-Meter-Schutzstreifen, der zusammen mit dem ersteren das Grenzgebiet bildete. Was für die Bewohner dieses Gebietes nicht ohne unangenehme Folgen blieb: Zugemauerte Hauseingänge und Fenster wie in Kriegszeiten waren die auch für den Westen sichtbaren Anzeichen der gesetzlichen Sondermaßnahmen, die fortan im Grenzgebiet galten.

Die fehlende Belüftung der zugemauerten Häuser hatte dazu einen nicht ganz unerwünschten Nebeneffekt: Die Häuser an der Mauer verrotteten, wurden baufällig und konnten nach und nach abgerissen werden — noch bis Mitte der achtziger Jahre. Die Bewohner dieser Häuser wurden zwangsumgesiedelt, allein in Treptow waren davon fast 4.000 Menschen betroffen. Keine Chance, weiterhin im Grenzgebiet zu wohnen, hatten auch alle Personen, die als »unsichere Kantonisten« galten, worunter pauschal auch alle ehemaligen Grenzgänger fielen: Personen, die vor dem Mauerbau im Westen gearbeitet hatten.

Ab Mitte der sechziger Jahre wurde es dann stiller im Grenzgebiet. Kein Wunder, denn zum Betreten brauchte man einen Passierschein, der bei Kontrollen immer wieder vorgezeigt werden mußte — eine Sonderbehandlung, die selbst bei der DDR- Bevölkerung nicht ausposaunt wurde. Frau K.: »Jeder, der hier wohnte, mußte seinen Bekannten- und Freundeskreis, auch seinen ferneren Verwandtenkreis aufgeben. Man kannte hier doch viele, die ein paar Straßen weiter und nicht im Grenzgebiet wohnten. Die haben dann gedacht, man will sie nicht einladen. Die haben das nicht geglaubt mit den Passierscheinen. Wir mußten selbst die Passierscheine für sie einreichen, die durften das ja nicht. Und wenn man dann etwa mal für einen runden Geburtstag einreichte und kriegte keinen, dachten die doch, man will nicht.«

Es herrschte Ordnung im Grenzgebiet, es gab kaum Verkehr und keine Verbrechen, was auch seine Vorteile hatte, wie ein Ex-ABV (Abschnittsbevollmächtigter = im Westen KOB) berichtet: »Es war sehr ruhig, trotz aller Probleme, es konnte also keiner unangemeldet kommen ... bin ich zum Alex gefahren, habe mir einen neuen Kühlschrank gekauft oder Möbel, mußte ich immer darauf hinweisen: Grenzgebiet. Und dann durfte ich warten, bis wieder eine Tour in diesen Bereich ging.« Schikanen im Alltag, die bei der Brennstoffversorgung anfingen und bis zum Einsatz des Notarztes reichten: Der durfte sofort kommen, bloß war es immer ein anderer. Ob Schornsteinfeger oder Fernsehantennen-Monteure, nichts lief ohne Genehmigung und Beaufsichtigung durch die Grenztruppen.

Wer davon die Nase voll hatte, kriegte noch eins obendrauf. Frau K.: »An sich konnte man nicht raus aus dem Grenzgebiet. Wir hatten hier eine Tochter von dem Kunstpreisträger Sch. Die hatte beantragt, raus aus dem Grenzgebiet. Wissen Sie, was man ihr schwarz auf weiß gegeben hat? Wem sie zumuten will, freiwillig ins Grenzgebiet zu ziehn?...«

Anfang der achtziger Jahre, nach der geglückten Flucht von zwei Elektrikern, fand noch mal eine Verschärfung der Grenzsicherungen statt: Sämtliche Dachluken wurden vergittert, eigentlich sollten die Dachböden für die Bewohner gesperrt werden. Allerdings, so erinnert sich der ABV: »Es wurde schon alles von oben her angewiesen, nichts war mehr koordiniert oder abgesprochen. Es wurde langsam hektisch, alle hatten Angst, nur keinen an die Grenze zu lassen.«

Viel genutzt hat alles nicht mehr: 1989 fiel die Mauer. Kommentar von Frau K. nach der Wende: »Als ich jetzt gehört habe, hier wird aufgemacht, das wird betoniert und ein Parkplatz, habe ich gesagt: ‘Um Himmels Willen. Jetzt müssen wir im Haus alles doppelt und dreifach verschließen!‚« Die Mauer-Idylle war vorbei, und bevor man im nachhinein alles besser weiß, haben die beiden Autoren von HALT! GRENZGEBIET! ein Stück Mauerrealität dokumentiert, das um so spannender wird, je mehr es vom Alltäglichen wie Unheimlichen erzählt. Die Aussagen der Bewohner machen deutlich, daß im großen und ganzen das grenznahe Wohnen kaum anders war als überall woanders auch. Bloß brachte es die ganze Absurdität besser auf den Punkt. Selbst für die Bewohner des Grenzgebiets war das Leben mit der Mauer so unnormal-normal, wie es heute das Leben nach der Mauer ist. Die Mauer ist weg, und mit der Erinnerung daran wird es alsbald nicht anders sein: Dann erst schlägt die wirklich große Stunde für dieses Buch. Lutz Ehrlich

Thomas Scholze und Falk Blask HALT! GRENZGEBIET! , BasisDruck, 29,80 DM. Die Autoren lesen aus ihrem Buch am 11. März um 19 Uhr in der Stadtbücherei in der Brunnenstraße.

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