Erlöschen, Erleuchten

Léos Carax' „Les amants du Pont-Neuf“ (Forum)  ■ Von Alexander Smoltczyk

Brücken machen schwindlig. Sie verbinden zwei Ufer, sind festgebaut und geraten doch in Bewegung, sobald man ins dunkle Wasser schaut. Wer auf der Brücke steht, dem gibt die Stadt sich preis. Ein zugiger, exterritorialer Ort im Innersten. Wo die wilden Kerle hausen, und wo sich Sartres Held Mathieu des schwindelerregenden Geheimnisses der liberté bewußt wird.

Wie alle guten Kinofilme beginnt Les amants du Pont-Neuf des Nachts. Alex, ein Dropout, der aussieht wie Lou Reed nach einem Sparring mit Mike Tyson, schleppt sich über einen leeren Pariser Boulevard. Er muß zur Brücke, zum faunskopfgespickten Pont-Neuf. Aber bevor Alex am Ufer ankommt, wird er von einem Auto über den Haufen gefahren und ins Hospiz von Nanterre eingeliefert. Die caméra oeil zeigt einen der Hospizbusse, die in Paris die Clochards einsammeln. Ein Narrenschiff voll schorfiger, vollgeschissener, geprügelter und sich prügelnder Menschen. Léos Carax wollte jeder Penner-Romantik vorbeugen: Die Szene ist authentisch. Die dokumentarischen Passage ist ihm besser gelungen, als sein Film vertragen kann: nach den Bildern aus Nanterre hat man Mühe, sich wieder an die Fiktion zu gewöhnen.

Les amants erzählt die Geschichte von drei Leuten, die von etwas umgetrieben werden und sich für einen Moment auf einer Brücke begegnen. Alex (Denis Lavant) sucht jemanden, weil er an sich alleine ersticken würde. Vielleicht kommt dieser Jemand über die Brücke; bisher ist da nur Hans (Klaus Michael Grüber in seiner ersten Filmrolle). Ein Diogenes, der zum Clochard wurde, weil er seine Frau nicht vor dem Suff retten konnte. Hans sammelt Schlüssel, brummt Gustav Mahler („Ich bin der Welt abhanden gekommen“) und wartet nur auf eine Gelegenheit, seiner Frau ins Wasser zu folgen.

Dann erscheint Michèle (Juliette Binoche), eine junge Malerin mit einem Pflaster über dem rechten Auge. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit. So wie Alex im Dunkel seiner Angst versinkt, so ist Michèle von einer Augenkrankheit bedroht: „Die Welt ist verschwommen. Oder sind es meine Augen?“, sagt sie und hastet durch die Stadt, auf der Suche nach Bildern. Vor allem nach dem des Cellospielers Julien, der sie verlassen hat und den sie ein letztes Mal noch malen möchte.

Alex klammert sich an Michèle, umsorgt sie und tut alles, um Julien auf Distanz zu halten. Was ihm auch gelingt. In einem Wahntraum tötet Michèle ihren Cellospieler, bricht alle Brücken ab und bleibt auf dem Pont-Neuf: „Ich will mit Dir besoffen sein, und Dein Lachen sehn“, sagt sie. Alex sagt gar nichts. Iggy Pop schreit im Off „I need a strong girl“, und Alex wirft seinen Gipsfuß übers Brückengeländer. Der Himmel brennt vom Bicentenaire-Feuerwerk, vom Ufer speien Funkengarben, es raucht, blitzt, knallt, und Michèle pflügt auf Wasserskiern durch die Seine. Ein besoffen-morbider Taumel in Glück und Gewalt. „Leben“ nennt es Carax.

Michèle hält sich ein kaputtes Radio vor die Brust. Alex umarmt sie, wodurch ein Wackelkontakt behoben wird. So erfährt Michèle, was Alex vor ihr zu verbergen suchte: ein neues Verfahren könne ihre Augen retten. Sie braucht keinen Blindenhund mehr und läßt Alex auf seiner Brücke zurück.

Zwei Jahre später treffen sie sich (wo wohl?) und kosten noch einmal am Exzeß. Es schneit. Michèle sagt, sie müsse zu ihrem Mann zurück, Alex wirft sie ins Wasser und sich hinterher. Mit einer alptraumhaft schönen Unterwassersequenz könnte dieser Film enden. Tut er aber nicht: „Wir haben das Ende letztlich ohne Tod und ohne Trennung gedreht und ich habe es Juliette (Binoche) gerne zum Geschenk gemacht“, sagt Carax. „Es ist mehr das Ende des Abenteuers unseres Films als ein Filmende, aber gerade deswegen stehe ich dazu. Der Schluß hat seine Wahrheit in den Gefühlen derer, die den Film gemacht haben.“

Les amants du Pont-Neuf ist ein Film über das Sehen und das rauschhafte Glück im Nichtmehr-Alleinsein. Ein Film über die Flucht vor dem Dunkel, das an allen Ufern wartet. So leben Carax' gelungenste Szenen vom Durchbrechen der Dunkelheit, vom Wechselspiel zwischen Licht und Auge. Vom Erlöschen und Erleuchten.

Alex beim Feuerspucken. Gefilmt mit geschulterter Kamera, in rasenden Schnitten montiert, hell, dunkel in rascher Folge, das Fauchen, die Flammen, der schwitzende Körper. Und dann ohne Übergang die gezähmte Ekstase, der Nationalfeiertag mit seinen marschierenden Legionären, den brüllenden Mirage- Bombern in blau-weiß-rot.

Bevor ihr Augenlicht erlischt, möchte Michèle ein letztes Mal ihr Lieblingsbild im Louvre sehen. Das Selbstporträt des alten Rembrandt. Aber es kann nur nachts geschehen, wenn die schmerzenden Strahler ausgeschaltet sind. Hans hat den Schlüssel. Wie auf George de la Tours Gemälde „Joseph als Zimmermann“ ist nur ihr Gesicht von der Kerze beschienen. Man sieht, wie Michèle die geschwärzte Leinwand abtastet, bis im flackernden Licht für einen Augenblick das müde Gesicht des Flamen zu sehen ist — wieder nur die Augen. Hell und dunkel, dunkel und hell. Kino.

Les amants du Pont-Neuf ist nach Boy meets Girl und Mauvais Sang Carax' dritter Film; der letzte einer Trilogie um die Gestalt des Alex. Weil sich Hauptdarsteller Denis Lavant am Daumen verletzte, konnten die Dreharbeiten am originalen Pont-Neuf nicht abgeschlossen werden. So wurde die Brücke am Rande der Camargue in Beton nachgegossen, das Wasser eines künstlichen Teichs mit Farbstoffen auf das Trübgrün der Seine getrimmt und das ganze Pariser Panorama als Theaterkulisse nachgebaut. Der Mistral brachte die Leinwandfassaden zum Einstürzen und drei Produzenten nacheinander zum Verzweifeln. 130 Millionen Francs hat die Produktion gekostet. Gerettet wurde sie letztlich durch Jack Langs Filmfonds. In Frankreich kam der Film im Oktober in die Kinos, war einige Wochen ein Erfolg und läuft inzwischen noch in zwei kleinen Sälen.

Carax wurde heftig angegriffen, wieviel Förderungsmittel und Steuergelder er für seine Vision verschwendet habe, wieviel Meter Autobahn, wieviel Minuten Desert Storm. Léos Carax bedauert an seinem Verschwendungsfest nur eins — daß die Kulissen wieder abgebaut wurden: „Als wenn man die Spur eines Verbrechens verwischt, aber es war ein schönes Verbrechen.“ Was sind Brücken? Brücken sind Orte des Überschreitens. Auch des Budgets.

Léos Carax: Les amants du Pont-Neuf, mit Juliette Binoche, -denis lavant, Klaus-Michael Grüber, Kamera: Jean-Yvers Escoffier, Frankreich 1991, 125 Min.

21.2. Haus der Kulturen 10 Uhr, Delphi 19.00

22.2. Babylon 21 Uhr

23.2. Akademie 16.30 Uhr

24.2. Arsenal 17.30 Uhr