Irgend etwas war im Ansatz nicht richtig

■ Ein Besuch bei Irene Gysi, der Mutter des PDS-Vorsitzenden: Eine späte Selbstreflexion?

Irgendwo im Ostteil der Stadt, eine mit Bäumen gesäumte Straße, eine Kopfsteinpflasterstraße, Pferdekutschen könnten jetzt vorbeiklacken — es würde ins Bild passen. Irgendwo in dieser friedlichen Straße ein noch friedlicherer Wintergarten, in dem der Christusdorn wächst und wächst und einfach nicht aufhören will zu wachsen. Ein mit zahlreichen anderen stacheligen Pflanzen zugestellter Wintergarten und mittendrin Irene Gysi, 1912 in St. Petersburg geboren, studierte Volkswirtin und nach 1949 22 Jahre in aller Welt unterwegs in Sachen DDR-Kultur. Ein buntes Kleid aus Kuba, handgestrickt, darüber eine knallrote Jacke, mit wehenden weißen Haaren und markanten schwarz nachgezogenen Augenbrauen, dazu eine „Berliner Schnauze“, die jedes Klischee der schlagfertigen und nicht gerade schüchternen Berlinerin in den Schatten stellt — das ist die äußere und klangliche Erscheinung Irene Gysis. Was es außerhalb des Wintergartens, nämlich im Haus Irene Gysis zu entdecken gibt, ist mindestens genauso ungewöhnlich für das Interieur einer ehemaligen DDR-Wohnung wie die jahrzehntelangen Bewegungsfreiheiten der Hausbesitzerin. Die fast Achtzigjährige lebt inmitten afrikanischer und europäischer Kunst, Zeugen ihrer Reisefreude und Ausdruck ihres kosmopolitischen Selbstverständnisses: Masken, Figürchen, Skulpturen aller Art drängeln sich auf den Schränken und Tischen, in den Bücherregalen türmt sich ein Literaturberg in russischer, deutscher, englischer und französischer Sprache, unter anderem der Ausstoß von zwei Verlagen, die Irene Gysi in der Anfangsphase der DDR geleitet hat. Ende letzten Jahres suchte ich sie mit einem ganzen Paket von Fragen auf. Was geht in einer Frau vor, die acht Jahre Verlagsleiterin in einem Land war, das nicht mehr existiert, und die 22 Jahre mit dem Auftrag durch die Welt geschickt wurde, einer Kultur Anerkennung zu verschaffen, die heute fast nur noch als aufzuarbeitender Quellenberg im Kontext der DDR-Geschichte betrachtet und neu gelesen wird? Gibt es bei den Kommunistinnen dieser Generation, die im DDR-Staat bekanntlich nur selten eine oppositionelle Rolle eingenommen haben, eine Art späte Selbstreflexion?

Wer aus dem Westen kommt wie ich und solche Fragen im Osten stellt, muß sich auf die Unmöglichkeit der Kommunikation vorbereiten. Das derzeitige politische Klima in Deutschland, das auch von dem Schweigen der einst einflußreichen und privilegierten Männer (und seltener: Frauen) der versunkenen DDR mitbestimmt wird, ist zur Zeit wenig geeignet, wirklich Vergangenheit aufzuarbeiten, das heißt, psychische Blockaden, Sturheiten, Arroganz, Lügen und Vorurteile in einem Gespräch aufzuweichen.

„Das Interessanteste an mir ist meine Familie.“ Am Anfang war der Stammbaum. Anders gesprochen: Wer etwas über und von Irene Gysi erfahren will, muß einen Bogen schlagen. An der Familie Gysi geht offensichtlich kein Weg vorbei. Irgendwie fängt alles mit der Geschichte ihres jüdischen Großvaters an, dem sie von 1933 an den Stempel „nichtarisch“ zu „verdanken“ hat. Irene Gysi erzählt von ihm, von Anton Lessing, als sei der erst gestern vom thüringischen Mühlhausen nach Petersburg ausgewandert, um dort durch den Aufbau einer Hufnagelfabrik Millionär zu werden. Auf diese Weise kam ihr Vater jedenfalls ins zaristische Rußland und heiratete in Petersburg eine Russin. „Als ich zwei Jahre alt war, brach der Erste Weltkrieg aus. In diesem Jahr kam mein Bruder zur Welt, der später als deutscher Botschafter nach Uganda ging und dort erschlagen wurde. Die Fabrik meines Vaters wurde enteignet, und meine Mutter wurde interniert. Durch die Heirat war sie ja eine Deutsche geworden. Und mein Vater mußte auf der Seite der Deutschen kämpfen. Gegen die Verwandten seiner Frau. Darüber ist er nie hinweggekommen.“

Die ersten sechs Jahre verbringt Irene Gysi in einem russischen Städtchen namens Pensa. Die ersten Sprachen, die sie lernt, sind Russisch und Französisch, richtig Deutsch lernt sie erst nach Ende des Krieges, als die Familie zur Zeit der Oktoberrevolution über Moskau, Riga nach Berlin auswandert. Die Familie Gysi findet ein Haus am Schlachtensee, weit ab vom Elend, dem Lärm der Großstadt und den Straßenschlachten. „Wir wohnten in einem hübschen Haus. Auf der einen Seite war der See, auf der anderen Seite die Eisenbahnschienen. Wir hatten kaum Nachbarn. Das war später die Rettung für meinen illegalen Mann, den ich während des Krieges dort versteckt habe.“

Mit dem Abschluß des Goethe-Lyzeums in der Drakestraße verändert sich ihr Gesichtskreis. Weg von den Eltern am Schlachtensee und den „stinklangweiligen Töchtern“ von Lichterfelde, hin zur Friedrich-Wilhelm-Universität und den roten Studenten. An der Universität begegnet sie Klaus Gysi, dem Sohn eines Neuköllner Arztes. „Wir haben praktisch beide das gleiche Leben. Wir traten beide der KPD bei, studierten beide Volkswirtschaft und hatten beide diesen gräßlichen gelben Streifen in den Studienbüchern, mit denen die Nazis einen zu Menschen dritter Klasse abstempelten.“

Auf die Frage, ob sie auf die Idee gekommen sei, zu emigrieren oder den Widerstand in Deutschland aufzubauen, wie dies zahlreiche andere Kommunistinnen unter Lebensgefahr getan hätten, fällt sie mir barsch ins Wort: „Aber Herzchen! 1933 war ich neunzehn Jahre alt. Wir waren doch Kinder! Heutige Achtzehnjährige sind doch viel älter als damalige Achtzehnjährige. Man war auch erst mit 21 Jahren volljährig. Nein, ich wollte nicht emigrieren. Noch rechtzeitig vor dem Rausschmiß aller ,nichtarischen‘ Studenten im Jahr 1935 haben wir unsere Diplome gemacht. Er seins und ich meins. Dann haben wir für einen katholischen Verlag gearbeitet, der Festschriften herausgab. Wir waren so eine Art Ghostwriter. Damit haben wir unser Geld verdient.“ Politische Differenzen habe es zwischen ihnen nie gegeben, bis heute nicht.

Wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges besuchen beide die Mutter von Klaus Gysi in Paris. Auf Anraten der Mutter beschließen sie, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Wie alle anderen „feindlichen Ausländer“ wird erst Klaus Gysi im September 1939, dann auch im Mai 1940 Irene Gysi im „Spanienlager Gurs“ in den Pyrenäen interniert. Nach wenigen Wochen, Ende Juni 1940, sind beide aus den Lagern entlassen und suchen Rat bei Franz Dahlem in Toulouse, der für die deutschen Kommunisten in Frankreich zuständig ist. Die Devise der Partei lautet für diejenigen, die über zuverlässige Papiere verfügen: Zurück nach Deutschland. „Das war gut gemeint. Es gab ja nicht für alle Versteckmöglichkeiten in Frankreich. Wir sind also illegal nach Deutschland eingereist und verbrachten den Krieg über in Berlin.“

Sie erinnert sich noch an Verwandte, die wie sie in ihren Wohnungen saßen und auf ihren Abtransport warteten. „Achtzehn Verwandte meines Mannes sind deportiert worden. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.“ Wir schweigen. Dann sagt sie, daß sich die meisten ihrer Freunde von 1933 an von ihr und ihrem Mann isoliert hätten. Und daß sie die gegenwärtige Situation durchaus an diese Zeit der Isolierung erinnern würde. „Die Deutschen aus dem Osten hält man doch für Idioten. Die Ossis werden zu Menschen zweiter, wenn nicht dritter Klasse abgestempelt.“

Ich frage zurück, ob sie das wirklich ernst meint. Erst Opfer der Nazis, jetzt Opfer des Westens? Natürlich hinke die Parallele, aber abgestempelt, isoliert, als Opfer fühle sie sich trotzdem. Zum zweiten Mal.

Zwischen diesen beiden äußersten zeitlichen Zäsuren ihrer Biographie, den Jahren 1933 und 1989, liegt irgendwo das Jahr 1945: Klaus Gysi wurde Bürgermeister von Nikolassee und Zehlendorf und dann von Johannes R. Becher nach Ost-Berlin geholt. „Klaus Gysi wurde Bundessekretär des Kulturbundes, und da dieser Kulturbund für die im Westen aus irgendwelchen Gründen eine furchterregende Vereinigung zu sein schien, zogen wir in den Ostteil Berlins. Ich wurde vom damaligen Präsidenten der deutsch-sowjetischen Freundschaft, Jürgen Kuczinsky, angesprochen und übernahm den Verlag Kultur und Fortschritt, später Rütten und Loening. Wir haben dann erst einmal die große russische, französische und englische Literatur herausgegeben, keine Kinkerlitzchen über die Metro in Moskau oder so etwas, sondern die große Literatur — Tolstoi, Maupassant, Roman Rolland und ich weiß nicht was noch. Es gab einen ungeheuren Nachholbedarf, denn bei den Nazis waren diese Literaten doch alle verboten.“

Fragen nach der anderen europäischen Literatur, nach der nicht verlegten, nach der Formalismus-Debatte in den fünfziger Jahren, nach der Zensur und nach den Leuten, die über die Verlagsprogramme entschieden, findet sie überflüssig. Natürlich habe es immer Leute gegeben, die einem dazwischengeredet hätten. Und es sei auch ganz unsinnig gewesen, sich die „schwerigen“ Autoren herauszupicken, es hätte doch einen ganzen Berg von herausragender europäischer Literatur gegeben, die die Deutschen noch gar nicht kannten. Eine „schwerige“ Autorin wäre sicherlich auch Susanne Leonardt gewesen, die nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion für kurze Zeit bei Kultur und Fortschritt arbeitete. Sie gehört zu den Kommunistinnen, die durch ihre Emigration in die Sowjetunion ins offene Messer gerannt sind. 1936 wurde sie in Moskau vom NKWD verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Neun Jahre verbrachte sie in Lagern, in der sibirischen Verbannung. Als unerschütterliche Kommunistin ging sie in die sowjetisch besetzte Zone. In ihren 1959 erschienenen Erinnerungen, die sie unmittelbar nach dem Verlassen der DDR 1950 niederschrieb, nennt sie in der Einleitung den Grund für ihr Schweigen: Sie wollte nicht in die Gefahr geraten, von ihren eigenen Genossen als Antikommunistin isoliert zu werden. Irene Gysi erinnert sich an sie: „Es war eine völlig verschüchterte, bescheidene, kleine, ängstliche Frau. Bei der traute man sich gar nicht, Fragen zu stellen. Sie schirmte sich völlig ab. Man wußte nur, daß sie bestimmt ein schweres Schicksal hatte. Nachdem ihr Sohn Wolfgang nach einer Jugoslawienreise Krach mit der Obrigkeit bekommen hatte, ging er in den Westen und holte seine Mutter nach. In diesem Fall habe ich sowohl seinen wie auch ihren Schritt verstanden. Zu diesem Zeitpunkt hatte man einfach nichts erfahren. Das kam erst später, 1956, mit dem 20. Parteitag der KPdSU. Die Rede Chruschtschows hat uns die Augen geöffnet.“

Es ist das erste Mal, daß der Begriff „Obrigkeit“ fällt, das Wort „Stalinismus“ aber wird ihr nicht über die Lippen kommen, und gegen die Bezeichnung „Unrechtsstaat DDR“ hat sie eine ganz energische Abneigung. Was soll denn das heißen, Unrechtsstaat? Es macht sie wütend, wenn die DDR so genannt wird.

Irgendwann in den fünfziger Jahren eröffnet sich für Irene Gysi ein ganz neues Arbeitsfeld: „Die DDR wollte ja unbedingt international anerkannt werden, aber keiner hatte einen Schimmer, wie das erreicht werden konnte. Und da war natürlich so ein Mädchen, das ein gewisses Auftreten und ein gewisses Aussehen und keine Schwierigkeiten hatte, beim Portier vorbeizukommen, sehr geeignet für bestimmte Dinge.“ Mit dem „Mädchen“ meint die damals etwa Vierzigjährige sich selbst und mit dem Portier nicht irgendeinen, sondern den vom Pariser Louvre. Die Arbeit für die Auslandsabteilung des Kultusministeriums wird von ihr erzählt, als handele es sich um eine Abenteuergeschichte: „Ich wäre an diesem Portier doch nie vorbeigekommen, mit unserem ulkigen Ausweis. Der hätte mich doch gefragt: Qu'est-ce que c'est ¿a? Also mußte ich an dem wie eine große Dame vorbeirauschen, so daß der gar nicht wagte, mich anzuhalten. Als ich dann erst einmal oben beim Generaldirektor angelangt war, standen einem auf einmal alle Türen offen. Es sollte nämlich in Paris eine Ausstellung ,200 Jahre Poussin‘ geben. Und wir haben ja einige Gemälde von Poussin in unserer Dresdener Kunstsammlung. ,Ich biete ihnen sieben Poussins an, die Sie von Ihren Experten aussuchen lassen können.‘ Wissen Sie, das war der Anfang der Anerkennung der DDR. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch gar keine Verträge, keine diplomatischen Beziehungen. Aber ich habe mitgeholfen, daß die DDR kulturell anerkannt wurde.“ Der Stolz über den gelungenen Kulturexport, den gelungenen „handgestrickten Anfang“ schwingt in jedem Satz mit, der die einzelnen Ereignisse dieses Kulturexports schwärmerisch erinnert: Der erste Auftritt des Berliner Ensembles, die Aufführung von Hoffmanns Erzählungen durch die Komische Oper in Paris und vieles mehr, was in Frankreich als Ereignis gefeiert wurde, fällt in die Zeit, in der Irene Gysi für diese Aufgabe zuständig war.

Jeder Versuch, über ihre heutige Sicht auf diese Jahre persönlichen, beruflichen Erfolges zu sprechen zu kommen, scheitert. Ihre 22jährige Tätigkeit als Vermittlerin von nicht gerade aufmüpfiger Kultur ist nichts, worüber sie reflektieren möchte. Warum auch. Bitter waren für sie nicht nur die vergangenen Jahrzehnte, sondern auch die Wiedervereinigung, vor allem die „Kriminalisierungen“. „Das war für mich ein schmerzlicher Prozeß. Ja, das hat mir sehr weh getan. Vor allem diese Beschimpfungen im Fernsehen machen mich wütend. Als in unserem Schauspielhaus, dem ,schönsten Konzertsaal Europas‘, wie der Präsident das so schön gesagt hat, im letzten Oktober gefeiert wurde, da war der Reporter noch nicht einmal in der Lage, ein kleines Sätzchen zu sagen wie: daß die DDR soundso viel Millionen in das Schauspielhaus hineingesteckt hat. Das mußte doch völlig neu aufgebaut werden! So ein Satz tut doch keinem weh, und uns tut er gut.“

Auch an einer Aufarbeitung des Scheiterns des DDR-Staates möchte sie sich nicht beteiligen. „Wissen Sie, das würde jetzt zu weit führen. Da sind ganz andere Leute damit beschäftigt, diese Frage nach dem Scheitern zu klären. Es hat ja nicht nur nicht in der DDR funktioniert, sondern nirgendwo im Osten. Irgendwas war im Ansatz falsch. Aber als Forderung für die Menschheit bleibt die Notwendigkeit, Menschen Arbeit und Wohnung zu geben, sonst kriegen Sie doch Millionen von Arbeitslosen. Wenigstens das Existenzminimum muß gesichert sein.“

Was die Zukunft betrifft, so denkt Irene Gysi, daß die Deutschen nun endlich Hand in Hand zusammenarbeiten sollten. Das gehe aber erst, wenn diese „häßlichen Beschimpfungen und Kriminalisierungen, diese entsetzliche Propaganda, diese Pauschalurteile“ aufhören würden. Nicht ein einziges Mal habe ich ein Nachdenken über die Opfer dieses Staates, über zerstörte Lebensläufe und über Schuldige herausgehört! Doch, zum Schluß, kurz vorm Gehen, tauchen dann doch noch Schuldige auf. „Natürlich gibt es ein Problem, Schuldige von den Unschuldigen zu unterscheiden. Aber deswegen sollte man doch endlich mit den Verallgemeinerungen aufhören. Man kann ja auch nicht sagen: Alle Eisenbahner sind schlecht.“ Gabriele Mittag