Short-Track: Eisspeedway zu Fuß

Das Ende der Langeweile — die Zukunft des Eisschnellaufens hat begonnen/ Volles Haus und überschäumende Stimmung beim neuen olympischen Kufensport  ■ Aus Albertville Matti Lieske

Ein Bild der Ödnis bot während der Wettkämpfe im Eisschnellaufen das neue Eisstadion von Albertville. Wenn die Läuferinnen und Läufer mit bedächtig anmutenden Gleitschritten ihre Kreise zogen, sahen meist nur die Angehörigen der verschiedenen Teams und ein paar Journalisten zu. Und die Niederländer natürlich, die einzigen, die dieser Sportart etwas abgewinnen können, fröhlich lärmten und die Gegengerade in ein Meer von Orange verwandelten. Selbst sie kamen jedoch nur, wenn ihre beschlittschuhten Landsleute Siegeschancen besaßen. Die Bürger von Albertville hingegen blieben geschlossen zu Hause.

Ganz anders beim Short-Track, der dynamischen Variante des Eislaufens. Eine volle Halle wie sonst nur bei den Duchesnays, eine Stimmung wie sonst nur beim Eishockey: Getrampel, Gesänge, lautstarke Anfeuerung und die unvermeidliche Ola.

Schon in Calgary 1988 war Short- Track, damals noch Demonstrationsdisziplin, der Publikumsrenner der Spiele. Kein Wunder: Anfang des Jahrhunderts in England ins Leben gerufen, hat dieser Sport vor allem in Kanada Fuß gefaßt. Doch auch in Japan, Korea und den USA ist Short-Track populärer als das Laufen auf der 400-Meter-Bahn. Eric Heiden, fünffacher Goldmedaillengewinner von Lake Placid 1980, und die mehrfache Sprintolympiasiegerin Bonnie Blair haben ihre ersten Meriten auf der Kurzbahn geerntet.

Inzwischen zur vollwertigen olympischen Disziplin avanciert, setzt sich das Eisspeedway zu Fuß langsam auch in Europa durch — in den Niederlanden natürlich, im Ursprungsland England, in Skandinavien und auch in Deutschland. Fünfzig Short-Track-Athleten gibt es in der Deutschen Eislauf-Union, in Albertville war jedoch niemand dabei. Nicht, weil sie etwa zu langsam wären, sondern aufgrund der Sturheit des NOK. Den Sportlern waren aus Versehen falsche Qualifikationskriterien übermittelt worden, die sie brav erfüllten. Obwohl völlig schuldlos an der Schlamperei, wurden sie nicht nominiert, was zu der grotesken Situation führte, daß Susanne Busch und Ingo Bleyl für den olympischen Wettkampf gemeldet und auch in Albertville waren — im olympischen Jugendlager — aber dennoch nicht an den Start gehen durften.

Der Ablauf von Short-Track-Veranstaltungen ist denkbar einfach. In einer normalen Eishalle werden die Banden gepolstert, dann betreten drei Schiedsrichter den Schauplatz, stellen in den Kurven kleine schwarze Hütchen auf, und schon kann die wilde Jagd losgehen. Vier behelmte Gestalten erwarten an der Startlinie nebeneinander den Startschuß und versuchen, sogleich eine günstige Position zu erschlittern. Schubsen ist verboten, taktisches Geschick gefragt, denn nur die ersten beiden kommen weiter, und das Überholen ist auf der 111,12 Meter- Bahn mit nur 28,85 Meter langen Geraden nicht einfach. Beim 1.000-Meter-Lauf wird in den ersten drei Runden gebummelt, dann zieht das Tempo an und steigert sich langsam zur Höchstgeschwindigkeit. In Schräglage wie Motorradfahrer fassen die Läufer in den Kurven aufs Eis, manchmal wird einer hinauskatapultiert und kracht an die Bande. Wer drei Runden vor Schluß vorne ist, gewinnt meistens auch, sofern es ihm gelingt, die Kontrahenten in den Kurven versiert auszubremsen.

Besonders tumultös wird es bei der Staffel, wo am Donnerstag abend die 3.000 Meter der Frauen auf dem Programm standen. Während die vier amtierenden Läuferinnen die Bahn entlanghasten, folgen ihnen die anderen zwölf im Innenraum und permanente fliegende Wechsel sorgen für ein Getümmel, als würden beim Eiskunstlaufen sämtliche Teilnehmerinnen gleichzeitig ihre Kür absolvieren. Eingangs der Kurve nimmt eine Läuferin aus dem Innenraum das Tempo ihrer Kollegin auf, flutscht ihr ausgangs in die Quere, streckt ihr erwartungsvoll das Gesäß entgegen und läßt sich mit einem kräftigen Schubs ebendort ins Rennen befördern.

Zur Freude der vielen kanadischen Fans, die sich unter die 9.000 Zuschauer gemischt hatten, kam ihre Staffel mit dieser raffinierten Technik am besten klar und holte die Goldmedaille, begünstigt allerdings durch das Unglück der Chinesinnen. Diese hatten ihr ganzes Halbfinale hindurch sicher, zum Teil mit einer halben Runde Vorsprung, geführt und waren in den letzen beiden Runden nur noch bestrebt, das Rennen sicher zu Ende zu fahren. Doch die Vorsicht wurde ihr Verhängnis: In der allerletzten Kurve, zwanzig Meter vor dem Ziel, stürzte die chinesische Schlußläuferin und verhalf so dem bereits abgeschlagenen Team mit dem verräterischen „CCCP“ auf den Anzügen zur Finalteilnahme und letztlich sogar zur Bronzemedaille hinter Kanada und den USA.

Die 1.000 Meter der Männer gewann zur grenzenlose Freude eines zackig fähnchenschwingenden Häufleins von Anhängern der Südkoreaner Kim Ki-Hoon — die erste Goldmedaille, die Korea je bei Olympischen Winterspielen holte.