„Die Durststrecke durchstehen“

■ Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten, Jochen Gauck, verteidigt die Grundentscheidung zur Öffnung der Stasi-Akten und seine Behörde gegen die wachsende öffentliche Kritik

taz: Sechs Wochen nach der Öffnung der Archive mehren sich sie Stimmen, die am liebsten mit der Stasi-Aufarbeitung Schluß machen würden. Die derzeitige Form der Vergangenheitsbewältigung wird immer heftiger kritisiert.

Jochen Gauck: Wir machen jetzt die allerersten Erfahrungen mit der Offenlegung der Akten, aber es ist schon deutlich, daß gegenwärtig ein Unbehagen, ein Ekel vor dem Thema entsteht. Es ist zum einen ein Unbehagen gegenüber der Medienkultur. Es ist nicht die politische Richtung, die den Widerspruch erzeugt, sondern die Vermarktung und Darstellung von Detailvorgängen und -informationen. Das müssen wir aber von der Sorge unterscheiden, daß wir in der Tat einem Wust von Kränkungen, Straftaten oder Verstößen gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden begegnen, die auch Zorn und Haß hervorrufen. Alle wußten, daß wir mit der Öffnung der Akten in eine Krise eintreten. Wenn Vorgänge bekannt werden, wie sie Vera Wollenberger oder Ulrike Poppe berichtet haben, welche Reaktion wäre die angemessene? Lächeln, oder gleich zur Tagesordnung übergehen?

Die Kritik kommt aber nicht aus den Reihen der Stasi-Opfer. Sie stammt aus der politischen Sphäre. Dabei werden Vokabeln wie „Hexenjagd“ oder „Stasi-Hsyterie“ gebraucht. Es wird bereits eine Denkpause gefordert, wie mit den Unterlagen der Staatssicherheit weiter verfahren werden soll.

Wer eine Denkpause fordert, sollte zwischen der politischen Wirklichkeit, die sich tagtäglich im Vollzug von Einzelüberprüfungen abspielt und der Rezeption in der Öffentlichkeit unterscheiden. Die Rezeption mag ja kritikwürdig sein, aber das andere ist nach wie vor politisch richtig. Während diese Debatte geführt wird, gelingt es gleichzeitig, Parlamentarier, Amtsleiter und andere, die früher als Mitarbeiter des MfS tätig waren, aus führenden Positionen zu entfernen. Aber wir müssen zugleich klarstellen, daß nur eine differenzierte Form der Aufarbeitung hilfreich ist. Wenn eine Überprüfung entlastende Tatsachen ergibt, dann muß man diese positiven Veränderungen in der Biographie entsprechend würdigen.

Der Grund für den aktuellen Stimmungsumschwung liegt möglicherweise genau in dem Widerspruch, daß mit der Aktenöffnung massiv Informationen an die Öffentlichkeit gegeben werden, diese aber weitgehend unvorbereitet ist, mit den Informationen umzugehen.

Das räume ich ein. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das Unbehagen im Osten oder im Westen größer ist. Ich tendiere dazu, daß der Westen die größeren Problem hat. Dort kann man nicht begreifen, daß das Wort Seilschaften für manchen Ostdeutschen tatsächlich immer noch eine vorhandene Bedrohung der Lebensmöglichkeiten beinhaltet. Ich denke, wir müssen zwischen einem kulturellen Unbehagen und einem Unbehagen an der politischen Grundsatzentscheidung unterscheiden. Die Gegner der jetzigen Regelung haben bisher in keiner Weise eine Alternative erkennen lassen. Das Unbehagen müssen wir durchstehen. Die Vorstellung, eine Vergangenheit wie unsere ohne krisenhafte Wachstumsprozesse in eine demokratsiche Gegenwart zu überführen, ist abenteuerlich, das kann nicht funktionieren.

Das kulturelle Unbehagen könnte aber so schnell anwachsen, daß es schwierig wird, die Arbeit der Behörde weiter zu führen.

Selbstverständlich, ich bin ja nicht blind. Wir erleben sehr deutlich, daß wir in einer Mediengesellschaft leben und sich sehr viele in ihren Einstellung danach ausrichten. In Bonn fordern bereits einige Parlamentarier die Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes

Es gab schon früh erkennbare Gründe, eine Novellierung anzustreben. Manche Bestimmungen sind in der alltäglichen Praxis schwer zu handhaben. Politische Begründungen für eine Novelle höre ich allerdings nicht — nur die Sorge, das Ganze bringe Unfrieden. Bisher war es möglich, die politischen Entscheidungsträger von der Notwendigkeit einer relevanten Begegnung mit der Vergangenheit zu überzeugen. Der Gesetzgeber hat politische Vernunft walten lassen und er muß jetzt die Schmerzen, die das verursacht, durchhalten. Wir müssen diese Durststrecke von Unwilligkeit und Leidensscheu durchstehen.

Sollte der populäre Ministerpräsident Manfred Stolpe demnächst über seine Stasi-Kontakte kippen, könnte die Stimmung gegen ihre Behörde, aus der die belastenden Informationen kommen, vollends umschlagen.

Ich müßte das respektieren. Aber der Vorteil ist ja, daß die Verbände, Parteien und Parlamente ihre Kriterien selbst bestimmen. Wenn ein Spitzensportler oder ein Lieblingspolitiker in, sagen wir einmal Problemzonen kommt, dann neigt sich ihm viel Sympathie zu. Man wird dann entscheiden müssen, ob man die jeweils betroffene Person aus Gründen der Sympathie oder der Politik weiter in ihrer Position sehen will, oder nicht. Ich bin sehr dankbar, daß der Gesetzgeber ein solches Urteil mit meiner Funktion nicht verbunden hat.

Sie müssen aber doch ein enormes Unbehagen dabei verspüren, daß sie die Kriterien nicht kennen, nach denen dann verfahren wird.

Sie können ruhig davon ausgehen, daß ich bei eklatanten Ungerechtikeiten meine Mund nicht halten werde. Sie dürfen auch davon ausgehen, daß ich meiner politischen Grundhaltung verpflichtet bleibe.

Ist die Vorstellung, daß die von ihnen erteilten Bescheide keine Bewertung enthalten, nicht etwas naiv. Ihnen wird doch vorgeworfen, daß Sie in Ihren Amtsstuben über Weiterbeschäftigung und Entlassung Betroffener entscheiden.

Es steht jedem Betroffenen frei, die Arbeit unserer Behöre gerichtlich überprüfen zu lassen. Einige Publizisten und Betroffene neigen dazu, das Handeln dieser Behörde darzustellen, als vollziehe es sich im rechtsfreien Raum. Ich kann das nur als Denunziation verstehen. Ich bin gern bereit, die Arbeit meiner Behörde überprüfen und Mängel beseitigen zu lassen. Bislang gilt es festzustellen, daß bei dieser überaus komplizierten Arbeitsaufgabe im Verlauf von einem Jahr kein wirklicher Fehler zutage getreten ist.

In einer Reihe von Fällen werden die aufgefunden Unterlagen der Stasi in Frage gestellt und ihre Aussagekraft bezweifelt. Beispielsweise von Manfred Stolpe, Gregor Gysi.

Ich möchte mich zu diesen konkreten Fällen nicht äußern, weil sie nicht abgeschlossen sind. Aber die Vorstellung, daß in unserer Behörde eine gewisse Beliebigkeit walten würde, die einen Menschen quasi willkürlich zum Opfer oder zum Täter machen, ist abenteuerlich. Wir beschreiben nur, was wir vorfinden. Wenn wir aber Karteikarten mit eindeutigen Einstufungen vorfinden, müssen wir dies natürlich mitteilen. Wenn wir darüber hinaus einzelne Aktenteile und belastende Dokumente finden, dann werden wir das mitteilen. Genauso teilen wir mit, wenn sich ehemalige IM aus eigener Kraft aus der Verbindung mit dem MfS gelöst haben.

Wir müssen aber noch einmal bei Stolpe, Gysi bleiben, die beide behaupten, sie hätten von ihrer Einstufung als IM nichts gewußt. Nimmt man diese Aussagen ernst, stellt dies doch die Arbeit ihrer Behörde generell in Frage.

Es gibt für uns keinen sachlichen Grund, anzunehmen, daß jemand IM geworden wäre, ohne daß er zumindest zugesichert hätte, die Kontakte zum MfS geheim zu halten. Nach unserer Erfahrungen sind Personen, die mit anderen Menschen offen über ihre Verbindung zum MfS gesprochen haben, aus der Kategorie IM gestrichen worden.

Die Aussagen der Betroffenen, wonach sie nur fiktiv als IM geführt wurden, stützen sich aber auf die Aussagen ihrer Führungsoffiziere.

Wir erleben hier manch rührende Szene. Auffällig ist, daß die Arbeitsergebnisse dieser Offiziere, und das sind die Akten, in der Öffentlichkeit in Frage gestellt werden. Wenn sie plötzlich aber im Trend liegende Aussagen machen, werden sie überaus ernst genommen. Den Akten eine gänzliche Unglaubwürdigkeit zuzusprechen, den Verfassern aber wahlweise Glaubwürdigkeit einzuräumen, das empfinde ich als abenteuerlich.

Was kann ihre Behörde dazu beitragen, daß das Interesse von der Entarnung der IMs mehr auf die Rolle der hinter ihnen stehenden Verantwortlichen gelenkt wird.

Wir merken in unserer Behörde sehr deutlich, daß die Aktenöffnung nicht nur eine IM-Jagd bewirkt. Die Betroffenen haben jetzt beispielsweise die Möglichkeit, Ereignisse, die sie als persönliche Fehlleistung gewertet haben, als Manipulationen zu erkennen. Sie erkennen den Verrat von Freunden, aber gleichzeitig die Treue und den Beistand anderer. Des weiteren läuft der mühsame Versuch, sich von bestimmten Personen in Einflußpositionen zu trennen, die sich da schon wieder ganz gut plaziert haben. In dem Teil der Bevölkerung, der sich eher als Handlungsobjekt der Regierung empfindet, muß es ein tiefes Unbehagen erzeugen, wenn ehemals Begünstigte weiterhin wichtige Positionen inne haben. Wenn jetzt ehemalige Mitarbeiter Landratsämter oder Parlamente verlassen müssen, ist das ein wichtiges Element für das Vertrauen in die neuen demokratischen Strukturen.

Sie sind selbst prominenter Vertreter einer Tribunal-Idee. Wir haben den Eindruck, daß es eine Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt. Je mehr die öffentliche Meinung in der Frage der Akteneinsicht kippt, um so nötiger wäre eine Institution, die die komplexen Zusammenhänge vermitteln könnte. Zugleich wird es immer schwieriger, ein solches Forum zu initieren.

Wir müssen heute überprüfen, ob eine solche Idee wirklich noch hilfreich ist. Den Unterzeichnern des Aufrufes erschien sie hilfreich, weil zwischen einer Aufarbeitung mit den Mitteln des Strafrechtes und denen der Publizistik und der Kunst ein großer Zwischenraum existiert, in dem der normale Bürger angesiedelt ist. Der wird angesichts der unerledigten Themen und Probleme der Vergangenheit zu Recht sagen, daß er alleingelassen wird. Es geht um das genaue Bezeichnen der politischen Verantwortung für bestimmte Fehler, Schwächen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich bin nicht sicher, ob dieses vernünftige Wollen eine Form findet, die von einer hinreichenden Öffentlichkeit akzeptiert wird.

Gibt es für sie in Sachen Aufarbeitung einen Punkt, an dem Sie sagen müßten, das Projekt Aufarbeitung ist am scheitern.

Sie haben einmal in Ihrer Zeitung gefragt, ob mit der Öffnung der Akten die Türen nicht so weit geöffnet werden, daß das als sehr störend bei der Annäherung zwischen Ost und West empfunden werden könnte. Es könnte sich zeigen, daß wir früher als erwartet an diesen Punkt kommen. Es muß uns gelingen, die Aufarbeitung als Fortsetzung von Befreiungshandlungen vom Herbst 1989 zu begreifen. Schaffen wir das nicht, dann können wir das ganz vergessen. Die modernen Gesellschaften reagieren zudem schnell auf Neuigkeitssignale und langsam auf das, was gelegentlich ein politisches Warnsignal oder ein nachdenkliches Ceterum Censeo ist. Sie neigt dazu, sich unterhalten und ablenken zu wollen. Es gibt aber auch das Bedürfnis, mit sich und seiner Umwelt ins reine zu kommen und sich in einer erkennbaren und akzeptierbaren Ordnung wohlfühlen zu wollen. Das letztere ist nicht ohne Krisen und Auseinandersetzungen zu haben. Interview: Wolfgang Gast und Mathias Geis