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Gebrauchte Sache

Stasi-Nachlaß im Räumungsverkauf  ■ Von Gabriele Goettle

So wie in fast allen mitteleuropäischen Großstädten, liegen auch in Berlin die etwas anrüchigen Institutionen stadtauswärts, in östlicher Richtung. Im Bezirk Lichtenberg herrscht traditionell dieses spezifische Gemisch aus Mietskasernen, Schrebergärten, Industriegelände, Zentralschlachthof, Häuteverwertungs- und Margarinefabrik, Seuchenviehhof, Zentralfriedhof, städtischen Heil- und Pflegeanstalten, städtischem Erziehungsheim, den ersten kriegswichtigen Werken von Siemens & Halske, Reichsmonopolverwaltung und Oberfinanzdirektion. Einiges davon wurde nach 1945 geschlossen oder verstaatlicht, vergrößert, in gleicher Weise respektive anderweitig genutzt.

Als das Ministerium für Staatssicherheit 1950 gegründet wurde, bezog es das Gebäude der ehemaligen Oberfinanzdirektion in der Normannen-/Ecke Magdalenenstraße und errichtete dort seine Zentrale. An dem großen Eckgebäude aus den zwanziger Jahren ist nichts weiter bemerkenswert, außer vielleicht die industriell gefertigten Backsteinornamente in der Fensterumrandung. In den fünfziger Jahren erstreckten sich südwestlich hinter der Zentrale noch Schrebergärten, und die MfS- Angehörigen fuhren zu ihrem Arbeitsplatz durch die Stalinallee. Elf Jahre später, die Berliner Mauer war gerade erst errichtet worden, schleifte man in einer einzigen Nacht das Stalindenkmal am Straußberger Platz und wechselte sämtliche Straßenschilder in der Stalinallee gegen neue aus, auf denen Frankfurter Allee stand. Man orientierte sich an den Beschlüssen des XXII.Parteitages der KPdSU und beseitigte — hier wie dort — die äußeren Zeichen des Stalinismus. Fortan fuhren die MfS-Bediensteten durch die Frankfurter Allee zur Arbeit, und Augenzeugen beschrieben diesen Vorgang folgendermaßen: „Wenn man da mit der U-Bahn langfuhr in der Frühe, dann waren die Stasi-Leute immer sofort zu erkennen. Da hatte man einfach einen Blick für. Am U-Bahnhof Magdalenenstraße erhoben sich mit einmal lauter junge Männer mit grünem Parka und schwarzer Aktentasche zum Aussteigen. Die kannte man in der ganzen Stadt, diese schwarzen Aktentaschen und grünen Parkas.“

Mit ihren Aufgaben wuchs auch die Behörde, wuchs der Wohnungsbau im Bezirk. Im Verlauf von fast 40 Jahren wurden die jungen Männer alt und grau, verschwanden Schrebergärten, Kirchen, Kneipen, Wohnhäuser und zwei Straßen, um dem MfS Platz zu machen. Auf einer etwa siebeneinhalb Hektar großen Fläche entstand durch aneinandergeklebte Neubauten eine Art Trutzburg, nach außen hin abgeschirmt und überwacht, sorgten im Inneren karge Grünanlagen, mit Asbestdächern bedeckte Speisegaststätten (für die Generalität), Konferenzsäle, Geschäfte, Kantinen und ein paar Freizeiteinrichtungen für etwas Ablenkung vom trübsinnigen Alltag in den tristen Büroräumen, Archiven und Aktenkellern. Der Komplex erstreckt sich von der Frankfurter Allee — wo jetzt unter anderem die sogenannte Gauck-Behörde residiert — bis hinauf zur Normannenstraße, und von der Magdalenenstraße bis hinüber zur Ruschestraße. Ein paar Straßen weiter, in nördlicher Richtung, steht eine neuere große Anlage, weitere Neubauten waren in Planung. Der ganze Bezirk und auch die angrenzenden Bezirke sind gekennzeichnet durch diese, in Plattenbauweise gewucherte MfS-Bürokratie; für den Dienst- und Privatgebrauch.

Manchmal beschert die Geschichte den einst furchterregenden und mächtigen Instanzen ein besonders profanes Ende. Im Speiseaaal jenes Eckgebäudes, in dem das MfS einstmals mit seiner Tätigkeit begann, werden nun alle seine hinterlassenen Gebrauchsgegenstände als Räumungsverkauf unters Volk gebracht.

Geöffnet ist nur donnerstags von 9 bis 12 und von 14 bis 18 Uhr. Das „Stasi-Kaufhaus“ zu finden, ist nicht leicht. Nirgendwo gibt es ein Hinweisschild auf den Eingang. Während wir herumirren in der Magdalenenstraße und den Seiteneingang des Amtsgerichts mit der Überwachungskamera für die gesuchte Adresse halten, kommt glücklicherweise ein älterer Herr mit Thälmannmütze und Lederjacke über die Straße und weiß Bescheid: „Am Rödeliusplatz geht es links, durch die Toreinfahrt des Finanzamtes in einen Innenhof, dort in der Halle findet der Verkauf statt. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel...“

Das Hallengebäude hat dunkelgrauen, fleckigen Putz, hohe Fenster, mehrere Eingangstüren, und im Souterrain hat sich eine Sauna eingemietet. Es ist kurz vor 14 Uhr. Mehrere, meist ältere Leute warten schon an der Treppe zum Aufgang oder gehen im Hof herum und mustern interessiert die Fassaden. Dann wird oben geöffnet. Dem Eintretenden bietet sich ein merkwürdiges Bild. Auf langen Tischreihen sind nacheinander Bücher, Werkzeug, Skischuhe, Lampen, Gardinen, Küchengeräte, Fahnen, Bierkrüge, Wandschmuck und anderes aufgereiht. Über all dem verbreiten einige Wandleuchten ihr fahles Licht. Für den Kunden stehen die schmalen alten DDR-Einkaufswagen aus HO-Zeiten zur Verfügung. Man geht schweigend herum, der ehemalige DDR-Bürger mustert routiniert das Angebot, während die wenigen Westdeutschen erst mühsam entziffern müssen, was in der dekorativen Büchse mit der Aufschrift „Pulax“ drin ist. Nein, mit Pullach hat das nichts zu tun, drinnen ist nichts weiter als 400 Gramm „schonender Scheuersand“.

Langsam füllen sich die Körbe. Ein Mittvierziger hat zwei Dutzend Bierkrüge aus grauem Steingut eingeladen, ein russischer Offizier in Uniform zögert lange, ob er einen leicht durchsichtigen Plastikregenmantel vom VEB Weimar-Oberbekleidung für fünf Mark kaufen soll — und nimmt ihn am Ende. Bei den Gardinen und Gardinenstoffen herrscht geradezu Kampfstimmung, zwei Hausfrauen möchten den selben Ballen haben. Für den Orwo-Farbentwickler und die große Leninbüste aus Kunststein für 750 Mark hingegen interessiert sich niemand. Auch nicht für die Unmengen von 25-Watt-Narva-Glühbirnen, für Besen, Schneeschieber, Fliesen aus Boizenburg und das riesige Sauerkrautfaß mit Leiter für 200 Mark, für abgeschabte Langlaufski, FDJ- Hemden oder den Schwarzweißfernseher Marke „Strassfurt-Stella“ zu zehn Mark. Sehr beliebt hingegen sind Telefone mit Tastatur, Lautsprecherboxen, Schlafanzüge, Stores, Isolierbehälter, graue Wolldecken mit roten Streifen und diverse Möbelstücke.

Das Mobiliar ist vorwiegend schlicht, stammt offensichtlich aus Büros und Aufenthaltsräumen. Da gibt es Aktenschränke aus Metall, an denen noch die erbrochenen Siegel haften, Schreibtische, Kleiderschränke, Tische mit Resopalplatten in allen Größen, Liegen, Sessel und Sitzgruppen, mit Kunstleder oder geblümtem Stoff überzogen. Der Reißwolf mit Riemenantrieb (und Metallwalzen wie bei einer italienischen Nudelmaschine) wirkt zugeklappt wie ein seriöses Holzschränkchen. Im Auffangbehälter ist Platz für jede Menge Streifen geschnittener Akten. Bereits verkauft ist ein Monstrum, in dem sich alle Träume vom Westen widerspiegeln, eine spezialangefertigte Tischlerarbeit. Im unteren Teil des altarartigen Schrankes befindet sich ein mit Marmorfolie eingefaßter Kamin, in dem aufgeschichtete Holzscheite bei Stromzufuhr rötlich glimmen. Hinter dem Glasfenster des Mittelteils können edle Trinkgefäße stehen, im rechten Flügel befindet sich der beleuchtete Musikturm mit Plattenhalterung, im linken die verspiegelte Hausbar, in der eine Drehscheibe, mit rotem Samt gepolstert, das Flaschensortiment präsentieren soll. Um das Ganze auch noch akustisch abzurunden, sind in die beiden Seitenteile riesige Lautsprecherboxen eingearbeitet. Für 250 Mark eine Sensation.

Und so geht es weiter und weiter, mit Robotron-Computern und Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, Registrierkassen, automatischen Spannungsgleichschaltern, Diktiergeräten, Projektoren, Kompaktküchenmaschinen namens „Berlinett“. Sehr traurig hingegen sieht es auf dem Büchertisch aus. Die MfS- Bibliotheken scheinen für Leseratten nicht viel Vergnügliches geboten zu haben. Ein wenig belehrende Belletristik zwischen roten und blauen Bänden. Handbücher, die erklären, wie man Sport und Spiel im Ferienlager vorschriftsmäßig betreibt oder als Militärtschekist Wache fürs Vaterland schiebt. Eher selten findet sich ein Kriminalroman wie der, der mir beim Suchen in die Hände fällt. Ein „Dienstexemplar der Abteilung vier“ mit dem einladenden Titel: Die Brut der schönen Seele, 1976 im Verlag Das Neue Berlin erschienen. Im Vorwort heißt es prophetisch: „Was haben wir falsch gemacht? Wo haben wir versagt? Wie konnte trotz sorgfältigster Sicherheitsmaßnahmen und menschenmöglicher Einsatzbereitschaft das Verbrechen dennoch geschehen?“ Im daneben liegenden vollkommen abgeschabten Marx/ Engels-Exemplar, Die Revolution von 1848 (Dietz Verlag 1949), findet sich beim Herumblättern wie durch Zauberhand ein kleiner Wink für die Fehlersuche: „... Revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre, ihren eigenen Stichworten mißtrauend, Phrasen statt Ideen, eigeschüchtert vom Weltsturm (...) Energie nach keiner Richtung, Plagiat nach allen Richtungen (...) Ohne Glauben an sich selbst, ohne Glauben an das Volk...“ Probleme, die nicht nur die die preußische Bourgeosie hatte.

Schnell nehme ich noch rote Fahnen, zwei mit, drei ohne Hammer und Sichel, 180*300 im Format. Und ein koloriertes Wandbild von Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Marx kaufe ich auch noch. Engels muß aus Kostengründen leider einsam zurückbleiben. Beinahe hätte ich den großen Behälter gar nicht gesehen, an dem sich einige ältere Männer zu schaffen machen. Er ist voll mit schwarzen Aktentaschen, jenen Aktentaschen, an denen man meist die jungen Stasi-Männer erkannte.

Ich möchte noch ein kleines Interview machen, aber der freundliche graublonde Angestellte schickt mich zu seinem Kollegen: „Dort die Tür, gehn Sie einfach rein, der kann Ihnen alles sagen.“

Im weißgetünchten Raum steht ein mittelgroßer dunkelhaariger Herr mit Brille und telefoniert. Man hat sich einige der Möbelstücke aufgestellt. Tische mit Wachstuch, vier Stühle, Metallspinde, auf denen Reinigungsmittel stehn, an der Wand hängt eine Kuckucksuhr, die Kaffeemaschine faucht leise.

b:So, entschuldigen Sie... Was kann ich für Sie tun?

a:Nur ein paar Fragen hätte ich, ich bin von der Presse.

b:Dann... Also, da gehen Sie besser zu meinem Meister, der weiß über alles Bescheid hier.

a:Der ist beschäftigt an der Kasse, Sie können mir doch auch ein bißchen was sagen.

b:Sie kommen aber spät, Ihre Kollegen waren alle schon da!

a:Mhm, ja... Also wenn ich das richtig verstanden habe, dann sind alle diese Sachen aus den Beständen des MfS?

b:Ja, die Spanne umfaßt eigentlich alle Objekte, von der Generalsetage über Kasernen der Grenzregimenter, Bürohäuser, Ferienobjekte und so weiter, aus diesem Spektrum werden hier Sachen verkauft. Alles was uns zufällt — und mit uns meine ich die Treuhandanstalt, deren Angestellte wir ja sind —, was also liegenschaftsmäßig geklärt ist, das räumen wir aus, ladens auf Laster, bringens her, ladens ab und bringen es zum Verkauf.

a:Und die Objekte selbst?

b:Das geht uns nichts mehr an. Aber soviel ich weiß, ist das Spektrum der Nachnutzer groß. Da gibts einmal Rückübertragungsansprüche und dann Neunutzer, die gekauft haben...

a:Und die wollen nichts von dem Inventar?

b:So wie das heutzutage ist, findet die Einrichtung keinen Anklang bei den Reichen und Neureichen. Ein Beispiel: In Zeuthen, da war, das kann man sagen, ein fürstliches Haus. Wir haben geräumt und mußten am Schluß auch noch die Holzvertäfelung rausreißen. Nun gut, man kann sagen, es war von Mielke, aber was kann die Vertäfelung dafür? Man hat gesagt, man will sie nicht, punktum, und wir haben sie runtergerissen mit blutendem Herzen, für BMW... Aber sowas ist die Ausnahme, in der Regel haben wirs mit ganz gewöhnlichen Objekten und Gebrauchsgütern zu tun.

a:Das ist mir aufgefallen. Sind die Käufer eigentlich enttäuscht über die Armseligkeit des Angebots?

b:Unsere Leute werden sich schon etwas gewundert haben. Allerdings hatten wir ganz am Anfang absolut hochklassige Sachen von der Generalität. Die hatten natürlich eine andere Ausstattung. Aber das alles aus den oberen Etagen, das ist sofort weggegangen. Und spezielle Sachen haben wir der ASTAK übergeben...

a:Wem?

b:Na da, der Antistalinistischen Forschungs- und Gedenkstätte, drüben in HausI. Aber sonst... Luxus war das alles nicht.

a:Und Sie und andere Kollegen machen also diese Arbeit für die Treuhand?

b:Ja, die meisten. Wir kommen alle irgendwie aus dieser Ecke, möcht ich mal sagen. Ich war Polizeimajor, ein anderer hier ist bei der Parteileitung gewesen. Wir schleppen Möbel und wir sind eigentlich alle nur deshalb hier, weil wir uns einigermaßen auskennen.

a:Worin, im MfS?

b:Nein, nein, nicht wie Sie denken. Ich persönlich zum Beispiel habe keinerlei Stasi-Vergangenheit, ich bin zweimal durch die Gauck-Behörde geprüft worden, ich hab nur eine DDR-Vergangenheit. Aber daß Sie so fragen, ist ja verständlich, wir haben hier natürlich jede Menge Probleme mit dem schlechten Ruf. Nur, sehnse mal, ich sage mir, ich hab schließlich meine 42 Jahre, die ich lebe, nicht im Faschismus verbracht, und das hier war nicht die Gestapo- Zentrale. Trotzdem ist die Betrachtung der DDR und des Organs hier so, als wäre das eine mit dem anderen vergleichbar. Das finde ich nicht richtig. Jeder, der dabei war, und wenn er nur Lagerhaltung oder Koch gemacht hat, steht negativ da, nur wegen seiner Zugehörigkeit, punktum! Man verdammt ihn genauso wie den General, schlimmer noch, man stößt ihn aus der Gesellschaft aus, während der General lächelnd im Fernsehen auftritt.

a:Diskutieren Sie hier untereinander über die Stasi?

b:Natürlich. Wir reden drüber. Das ist ja überall das Thema Nummer eins. Aber mal ehrlich, mir kommt es so vor, als ob man uns absichtlich damit so aufregt, damit wir unsere ganz konkreten Probleme übersehen. Man tut ja so, als wäre der DDR-Geheimdienst der einzige auf der Welt gewesen, aber in jedem andern Staat gilt es als legitim, einen zu haben. Ich, so hört man, habe jetzt sogar vier oder fünf im eigenen Staat? Da guckt keiner hinter die Kulissen. Immerhin hatten wir eine ganz offizielle Behörde, ein Ministerium, dessen Repräsentanten jeder kannte...

a:Und haßte...

b:Auch das. Aber nun frage ich Sie mal, kennen Sie die Leiter Ihrer Dienste?

a:Da muß ich passen.

b:Sehnse. Und bei uns gabs öffentliche Veranstaltungen im Palast der Republik, Ferienheime für die FDJ, alles Mögliche. Gut, das ist nur eine Seite, und die andere, die wichtigere Seite ist, daß sich dieses Organ Staatssicherheit leider so verselbständigt hat, daß es an sich ja mächtiger war als die Staatsorgane selbst. Es hat sich in Bereiche hinein ausgebreitet, in die es so nicht gehörte, ins ganze innere Leben. Es hat den Bürger zum Hauptobjekt seiner geheimdienstlichen Tätigkeit und Observation gemacht. Aber nun, wo ohnehin alles vollends kaputt gegangen ist, sollte man sich wenigstens ehrlich fragen, wie das gekommen ist. Hat das aus der Entwicklung dieses Staates heraus alles so kommen müssen, wann hätten wir Fehlentwicklungen vermeiden können, wann nicht? Wir haben uns das alles gefragt und nicht beantworten können. Wir wissen inzwischen aber, überall auf der Welt, vom KGB bis zum CIA, sind die Geheimdienste unkontrollierbar, ist an sie kein parlamentarisches Rankommen, machen sie Politik. Dieses Geschäft bedient sich schmutziger Methoden. Dagegen war unser MfS wahrscheinlich ganz altmodisch und lächerlich. Es hat keine Kriege angezettelt, keine Diktatoren auf den Regierungssessel gesetzt und keine Staatsoberhäupter erschossen...

(Die Tür öffnet sich heftig und der Graublonde fragt: Die helle Couchgarnitur, ist die schon weg?)

b:Also von mir isse nicht verkauft worden! ... Wo war ich?

a:Bei den erschossenen Staatsoberhäuptern.

b:Richtig. Ja, und wenn das aber dann, so wie bei uns, alles nach innen losgeht, die ganze Energie so eines Organs, dann ist das eine Katastrophe. Die hatten ja eine Staat-im-Staate-Position und hatten sich im Grunde auch abgekoppelt von jeder Planwirtshaft. Das erkenne ich immer mehr. Grade auch die KoKo, das war eine kapitalistische Enklave mitten in unserem Sozialismus. So sollte dann die Unterlage geschaffen werden, um die Löcher mit Devisen immer wieder zu stopfen. Das System ist pervertiert worden mit der Zeit, das ist traurig... Ich bin ja auch Ökonom und war viele Jahre Hochschullehrer. Drum weiß ich, was es bedeutet, wenn sich so ein Organ abkoppelt — nicht nur von seinem eigentlichen Schutzauftrag, sondern auch von allen Plangrundlagen. Die Ergebnisse sehen wir ja jetzt bei unserer Arbeit fast täglich...

a:Was sehen Sie da?

b:Daß dieser Bereich, trotz knapper ökonomischer Decke im Staat, überproportional zugewiesen bekommen hat. Wir werden andauernd Zeugen dieses Überflusses, sehen übervolle Lager. Es wurde gehortet in allen MfS-Heimen. Vom Rasenmäher bis zum Stoffballen gabs vieles dutzendfach. Aus den simpelsten Ferienhäusern haben wir Hunderte von Kaffeekannen herausgeholt, oder auch Kochjacken, und zwar in solchen Mengen, damit hätte man das Personal mehrerer Großküchen bekleiden können; es waren aber nie mehr als drei Köche dort. Wenn ich das jetzt so sehe und mir vorstelle, wie sich das potenziert hat im ganzen Land, dann wird mir einiges klarer. Diese Lagerwirtschaft macht die ganze Volkswirtschaft kaputt. Das MfS hat seine eigene Planwirtschaft betrieben und der Volkswirtschaft Produkte entzogen, die anderswo dringend gebraucht wurden — nur um sie zu horten. Wie es aussieht, war das nicht nur bei den Gebrauchsgütern so. Bei der NVA, das kann man ja jetzt ahnen, wo für Milliarden und Abermilliarden Gelumpe verkauft wird, da war es auch nicht besser. Das hört gar nicht mehr auf. Wenn man sich vorstellt, was das für Werte sind... Und als Privatperson hat man es im kleinen ganz genauso gemacht. In der DDR gabs nichts, und jeder hatte alles! Ich hatte zum Beispiel auch immer meine drei Keilriemen, weil man wußte, daß die Dinger nach einem Jahr verschrumpeln. Aber natürlich hab ich sie der Volkswirtschaft entzogen und sie in meinem Keller nutzlos liegen lassen...

a:Das hat aber nicht zum Zusammenbruch der DDR geführt.

b:(lacht) Natürlich nicht. Das waren ganz andere Zwänge, die kann ich nicht bewerten, über die Hintergründe ist viel zuwenig bekannt. Aber mitgewirkt an der Unterhöhlung der Fundamente unseres Staates haben sie schon.

a:Sie haben den Schock noch nicht überstanden?

b:Aber wie kann ich denn... Wo finde ich denn die Erklärungen, wem kann ich denn glauben oder widersprechen, wenn man mir sagt: „Sei froh, daß du diese schreckliche Diktatur hinter dir hast.“ Und wer will mir denn überhaupt zuhören? Und so geht es den meisten von uns, daß sie im Grunde ihrer Seele trauern um den Verlust ihres Staates und sich nicht traun, es zuzugeben. Aber schließlich haben wir ein Recht auf unsere Trauer, es steckt unser Leben drin, unsere Ideale, unsere Fehler... Da kann auch noch so schöner Konsum kein Trost sein. Die Konsequenz draus ist Schweigen. Wir schweigen alle, weil wir sozusagen entmündigt sind, wir warten ab und versuchen zu verstehen, was ist.

a:Haben Sie Kinder?

b:Ja, und sehnse mal, bei denen ist das ganz anders, die haben keine Angst. Mein Großer, der ist 17, das ist ein ganz Schlimmer, der Kleine ist 16 und wird wohl auch so. Der Große ist durch die Wende vollkommen ins Trudeln geraten. Er war ein richtig guter FDJler, geht aufs Gymnasium. Nun setzt er sich hin und schreibt über Marx, und dabei weiß er doch ganz genau, daß er damit heute aneckt und vielleicht sein Abi gefährdet. Ich versuche den beiden ein gutes Vorbild zu sein, auch jetzt noch, aber das ist fast unmöglich. Sie nehmen nichts mehr an. Die sind so revoluzzerhaft, so linskrevoluzzerhaft, das tut mir richtig weh!

a:Wieso denn? Andere werden Skinhead.

b:Insofern... Meiner Seele ist er schon näher, aber muß denn gleich derart übertrieben werden? Jedesmal, wenn ich ihn sehe, möchte ich ausreißen. Schrecklich die Frisur, lange Haare hier und hier nicht, ein furchtbarer Anblick... Aber ich denke mir, scheiß auf die Haare, nur wenn ich dann die Ketten seh und diese Dings...

a:Ein ungewohnter Anblick.

b:Das können Sie sich denken. Den hätten Sie mal früher sehen müssen... Es ist zu seinem eigenen Schutz, ich weiß. Voriges Jahr, nur ein Beispiel, war er auf einer genehmigten linken Demonstration in Neukölln. Da kam die Polizei sofort und hat ihm als erstes sein neues Palituch abgenommen...

a:Sein was?

b:Sein Palästinensertuch, das hat man ihm weggenommen wegen „passiver Bewaffnung“ und ihm auch noch Schläge angedroht. Da kam er mit Frust heim, und sowas versteh ich ja... Aber trotzdem, ehrlich gesagt, er sieht zum Kotzen aus, mein Junge, mit seinen Bomberstiefeln und allem... Dabei hab ich ihm dummerweise noch meine Kampfanzüge gegeben und damit rennt er jetzt rum, immer! Na ja, ich finde natürlich auch nicht, daß die Gesellschaftsordnung, so wie sie jetzt ist, gut ist, aber ich habe einfach keine Kraft, gegen das Unrecht in dieser Gesellschaft anzugehen, keine Mittel, keine Erfahrung. Am 15. Januar, da war überhaupt kein offizieller Aufruf nötig, bin ich zur Demonstration gegangen. Ich sagte mir, ich geh am 15. auf die Straße...

a:Weshalb?

b:(konsterniert) Der Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht! Jedenfalls, ich wollte demonstrieren, daß ich immer noch daran glaube, daß es sich lohnt für einen menschenwürdigen Sozialismus, für eine gerechte Gesellschaftsordnung einzutreten...

a:Und gleichzeitig liquidieren Sie die Überreste des vorangegangenen Fehlversuchs?

b:So muß man das wohl sehen... Ja...

(In der Stille erhebt sich ein Schnarren, dann flötet der Kuckuck melodisch viermal)

Unser Problem wird zum Beispiel auch in der Tatsache deutlich, daß wir keine Bewertungskriterien haben für den Preis dieser Waren hier. Wir haben von der Treuhand die Auflage, nichts zu verschleudern. Aber was soll denn heute eine unmoderne Kaffeekanne kosten oder eine Fahne der DDR? Wir wissen, was das bei uns wert war, mehr nicht. Machen wir also die Fahne teurer für die Sammler, die Kanne billiger für die Oma. Aber vieles geht ja weit unter dem Herstellungspreis und den Materialkosten weg, hier und überall. Aber ich sage mir, man darf doch auf keinen Fall vergessen, daß in dem, was jetzt Ramschware geworden ist, die Arbeitskaft und Lebenszeit unserer Werktätigen drinsteckt, daß Leute ihre Knochen ruiniert haben und jeden Morgen angetreten sind in ihrem Werk... Sowas bewegt mich schon. Und was eben noch dazu kommt, als Problem, unsere Arbeit hat ja eine schreckliche Eigendynamik. Mit jedem Tag, an dem wir unsere Arbeit verrichten, sorgen wir für ein baldiges Ende dieses Projekts. Ich weiß ja, wie das ist, ich habe vorher schon Dynamo mit abgewickelt. Arbeitend machen wir uns selbst überflüssig. Das Ende ist unausweichlich, wir können es nicht hinauszögern, jeden Donnerstag muß die Halle neu gefüllt sein, bis nichts mehr da ist...

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