Die Welt aus Sicht der Hose

■ Im Panorama: Stephen Hawking meets Tom of Finland

Ein Zufall der Zeit, daß ich am selben Abend das Filmportrait des Physikers Stephen Hawking sah und gleich danach das von Tom of Finland. So nahmen sie in meinen Hirnhälften Platz und begannen einen Dialog über das Zwanzigste Jahrhundert, der sich fortsetzte bis in meinen Traum. Heavy Sleeper.

Egal, ob das Sonnensystem gerade expandiert oder sich zusammenzieht, ich beginne mit dem Älteren: Tom of Finland, geboren 1920 im südwestlichen Finnland, gestorben letztes Jahr in Kalifornien. Kind eines Lehrerpaars, Soldat im Zweiten Weltkrieg. Mit deutschen Wehrmachtssoldaten, an deren Seite die Finnen gegen die Sowjetunion kämpften, hatte Tom seine ersten homosexuellen Erlebnisse. Nach dem Krieg war er fünfzehn Jahre Zeichner in einer Werbeagentur, als er begann, seine akkurat übertriebenen Zeichnungen geiler Ledermänner an amerikanische Homo-Magazine zu verschikken. Noch hatten seine Männer rote Wangen.

In diesem Krieg wurde, 1942, Stephen Hawking geboren, ein Kind — so eine Zeugin — das „ständig in Bewegung“ war; ein bis zur Borniertheit ernster Zappelphilipp, mit acht oder zehn der Zeremonienmeister sonntäglicher Familientänze. Ein Musterstudent, der Aufgaben in theoretischer Physik an einem Vormittag erledigt, die andere in Wochen nicht bewältigen. Immerhin, er trinkt Bier. Und er vergießt das Bier, als seine Hände schwach werden, erste Zeichen einer „Amyothrophischen Lateralsklerose“, die den Körper bis in den Kiefer erlahmen und das Hirn unversehrt läßt. Er sitzt längst im Rollstuhl, als er mit dem Problem der „schwarzen Löcher“ im Universum beginnt, die Frage nach einem möglichen Beginn der Zeit — der Schöpfung — anzugehen.

Um diese Zeit, etwa 1970, verläßt Tom sein Finnland und geht nach Amerika. Sein Empfang, mit Motorradeskorte und Ausstellungseröffnung in New York, ist triumphal. Er hat eine Generation von Homosexuellen geprägt, die sich jetzt Schwule nennen. Mit Hilfe seiner phantastischen Illustrationen haben sie das Getto einer fremdbestimmten Kategorisierung („der weibliche Mann“) verlassen: „Ich wollte zeigen, daß auch sehr maskuline Männer Gefühle haben“. Er hat schon die feuchten, flackernden Augen des alten Mannes, als er dem Dokumentarfilmer Ilppo Pohjola sehr reflektiert Auskunft gibt über sein Werk — auf finnisch. „Wenn die Phantasien losgelassen werden, verkehren sich die Rollen“, sagt er. Eine Szene zeigt drei oder vier Ledermänner, die einen Motorrad-Cop durchficken und ihm ins Gesicht pissen. Die Aura der Harmlosigkeit, die diese Pornographie umgibt — es ist ganz klar Spiel, nur Spiel — hat einen banalen Grund: die Männer, „Täter“ und „Opfer“, lächeln wie die Kinder. Leute, die mit beiden Stiefeln auf der Erde stehen, die Welt aus der Sicht der Hose, Phantasmagorien im Reich des Camp. Es gibt keine Texte zu den Illustrationen; deshalb zirkulieren sie, auf den rutschigen Bahnen der Subkultur, mit ungeheurer Geschwindigkeit, in alle Dörfer in allen Ländern der Welt.

Die Stimme, die metallisch und in seltsam fühllosem Singsang Spekulationen anstellt über die Endlichkeit des Alls, gehört einem Computer. Hawking hat, mit fortschreitender Krankheit, seine Stimme verloren. Er schreibt und spricht über ein Duden-ähnliches Textsystem, ausgelöst von seinem schwachen Druck auf einen elektrischen Schalter. Seine hellen Augen hinter der Brille wirken fast alterslos, die Lider milchig. Sein Körper ist zusammengefallen zu dem, was man auf englisch „vegetable“ nennt. Er gibt zu Protokoll, daß er erst mit dem Beginn der Krankheit begonnen hat, sich für irgendetwas ernsthaft zu interessieren. Was dieses Etwas ist, bestimmt Hawkings selbst. In geisterhaften Formeln rechnet er sich in das bis dahin Undenkbare: spindeldürr werden die Körper der Astronauten, wenn sie im Schwarzen Loch verschwinden. Geben sie Strahlung ab, wenn sie aufhören, als Individuen zu existieren? Wenn die Ausdehnung des Universums sich umkehrt, kehrt sich dann auch die Geschichte um? Das hat er zunächst bejaht. Nein, „sagt“ Hawkings jetzt, sie kehrt sich nicht um, auch nicht in Milliarden von Jahren. „Es hat also keinen Sinn zu warten, wenn man zu seiner Jugend zurückkehren will“: es ist diese lapidare Rhetorik, die den Physiker auszeichnet vor seinen Kollegen, die ihre Körper spüren. Mehr oder weniger. In seinem Arbeitszimmer hängt das Halsman-Bild der Monroe als Tänzerin, die X-Beinstellung unter dem weiß ausladenden Rock.

Beide Filme leiden unter der angelsächsischen Krankheit: keine Zeit. Sie sind zu schnell. So eilig hat es Pohjola, daß sich die Off-Kommentare manchmal überlagern. Die Interviewpartner, sämtlich viel jünger als Tom of Finland, werden in der Mitte eines Satzes geschnitten.

Die Interviewpartner von Errol Morris, der den Hawking-Film gemacht hat, sind umso stärker, je älter sie sind. Morris wahrt den Schein der Authentizität: er montiert perfekte Sätze, indem der Schnitt aufs Komma fällt. Man sieht es, und fühlt sich betrogen. In den Kaffeetassenillustrationen (geborgt von der NASA und diversen Instituten) erscheinen die Geheimnisse des Universums als durchschaubare Tricks. Philip Glass' entnervende Musikarchitektur gibt dem Leben des Denkers im Rollstuhl die Wendung ins Erhabene, die es nicht braucht. Ulf Erdmann Ziegler

Brief History of Time. Regie: Errol Morris, GB 1991, 35 mm (1:1.85), Farbe, 83 Minuten. Musik: Philip Glass. Schnitt: Brad Fuller. Noch nicht untertitelt. — Daddy And The Muscle Academy. Regie: Ilppo Pohjola, Finnland 1991, 16 mm (1:1.37), Farbe, 55 Minuten. Mit Tom of Finland, englische UT. Weltvertrieb: Filmitakomo Oy/ Helsinki, Fax 0035-801357853.