Der Tag des Alberto Tomba

Trotz seiner Niederlage gegen den Norweger Finn Christian Jagge war Italiens Supermoppel Alberto Tomba — nach grandioser Aufholjagd noch mit Silber bestückt — allerbester Laune  ■ Aus Les Menuires Matti Lieske

Das Rennen war längst entschieden, da stapfte der skifahrende Carabiniere Alberto Tomba immer noch fröhlich durch den Zielraum, anfangs eskortiert von acht Kollegen der französischen Gendarmerie, die er aber alsbald abschüttelte. Er gab Interviews und Autogramme, ließ sich fotografieren, plauschte mit Bekannten, scherzte mit Wildfremden und warf ab und zu einen Blick auf die Läufer mit den hohen Startnummern, die sich bedächtig einer nach dem anderen ins Ziel des olympischen Slaloms vortasteten.

Dem Mexikaner Juan-Carlos Elizondo schrieb er ein Autogramm aufs Leibchen mit der 99 und dem letzten aller Starter, einem gewissen Alejand Preinfalk-Lavandi, der für die beiden Läufe rund dreimal so lange gebraucht hatte wie Tomba, lief er mit ausgebreiteten Armen entgegen, um den völlig begeisterten Costaricaner dann gemeinsam mit Finn Christian Jagge johlend auf die Schultern zu heben. Jagge, der Norweger, hatte zuvor die Goldmedaille gewonnen, trotzdem war es zu guter Letzt doch noch der Tag des Alberto Tomba geworden.

Seit Wochen hatte das kleine Les Menuires, das sich die Beförderung zum Olympia-Ort sogar mit Demonstrationen erstritten hatte, diesem Tag entgegengefiebert. Blaskapellen und Saxophonisten, die vom Lift herunter schwermütige Weisen intonierten, waren aufgeboten worden, ein Künstler hatte Schneeskulpturen, unter anderem eine fünf Meter hohe Sphinx, geschaffen, die Sonne strahlte — es herrschte Festtagsstimmung. Das war auch ein Verdienst der vielen angereisten Italiener, die nur einen Namen im Kopf und im Munde führten: Tomba.

Da grüßte der „Alberto Tomba- Tagliatelle-Fanclub“, ein Transparent feierte den stämmigen Wedler als „achtes Weltwunder“, eine Gruppe war „von San Lazzaro nach Albertoville“ gereist , und als der stoppelbärtige Ski-Papst aus Bologna, nach allen Seiten freundlich grüßend, mit dem Lift zum Starthäuschen fuhr, erhob sich frenetischer Jubel unter den 30.000 Zuschauern und bunter Rauch stieg auf wie im San Siro-Stadion.

Aber ach, Alberto hatte einen schlechten Ski. Im Training sei der Schnee härter gewesen, sagte er später, doch beim ersten Lauf sei er mit den viel zu scharfen Kanten „glatt im Schnee versunken“. Von vielen war die sehr flache Abfahrt auf dem Idiotenhügel von Les Menuires als viel zu leicht gescholten worden, eine Einschätzung, der Armin Bittner vehement widersprach: „Schmarrn, die Strecke ist absolut olympiawürdig.“ Klar war jedoch, daß die technisch anspruchslose Piste weder ihm noch Tomba sonderlich lag. Aber während Bittner im zweiten Durchgang einfädelte und ausschied, hatte Tomba mehr Glück.

Im ersten Lauf wurde er Sechster, fast eineinhalb Sekunden hinter Jagge. Dann hatte er drei Stunden Zeit zu analysieren, woran es gelegen hatte. Er kam zu dem Schluß, daß nicht nur die Kanten zu scharf, sondern auch der Bart zu stachlig gewesen sei. „Ich sah im Hotel zufällig in den Spiegel und dachte, ich sollte mich rasieren“, berichtete er später. Gesagt, getan: Glattgesichtig wie ein geliftetes Baby kam Tomba zum zweiten Lauf und siehe, der Zauber wirkte. Wie von Furien gehetzt raste er um die Stangen, legte eine phantastische Zeit hin, ließ sich erstmal erleichtert auf den Rücken platschen und wartete dann auf die fünf Läufer, die vor ihm lagen. Keiner konnte ihn einholen, bis Finn Christian Jagge kam.

Der Norweger hatte, als Tomba Bartpflege betrieb, eine Stunde lang in einem kleinen Lifthäuschen neben der Strecke gesessen und sich, wie er erzählte, „einige hundertmal“ gesagt: „Ich kann ihn schlagen, egal, wie schnell er fährt.“ Er, das war natürlich Alberto Tomba. Wen sonst sollte Jagge fürchten? Als der Norweger dann herunterkam, saß sein italienischer Rivale mit dem Rücken an der Bande und erlebte, wie der Vorsprung Zehntel um Zehntel schmolz. 27 Hundertstel waren im Ziel noch übrig, genug für eine weitere norwegische Goldmedaille, ausgerechnet durch jenen Mann, der lange Zeit als die tragische Figur im Team der Skandinavier gegolten hatte.

Aufgewachsen in der Nähe von Oslo, zweihundert Meter entfernt vom Kirkerudbakken, einem Hang, auf dem Ingemar Stenmark und Konsorten während Jagges Kindheit Weltcup-Slaloms liefen, galt Finn Christian Jagge immer als großes Talent. Er war jedoch meist so angespannt, daß er bereits im ersten Lauf ausschied und, weil er stets wieder so früh im Hotel war, „Anrufbeanworter von Furuseth“, seinem erfolgreichen Zimmerkollegen, genannt wurde.

Dann warfen ihn Knieverletzungen zurück, doch mittlerweile ist er nicht nur gesund, sondern auch lockerer und „organisierter“ geworden, wie sein Trainer es nennt.

Der Lohn der Lockerheit war die Goldmedaille, und die, so Jagge, sei noch süßer, weil er Tomba geschlagen habe. Der nahm's nicht krumm und tätschelte seinem Bezwinger freundlich den Kopf. „Ich habe ja schon drei Goldmedaillen, drum wollte ich unbedingt Silber“, grinste er, und seine Fans, die immer nur Siege von ihm erwarten, könnten nach dem schwachen ersten Lauf heilfroh sein, daß es noch zum zweiten Platz gereicht habe. Das waren sie auch, und der bunte Rauch, den die italienische Schar in den Himmel von Les Menuires steigen ließ, tat der Welt unmißverständlich kund: „Habemus Tomba.“