Der Tod und das Mädchen

■ Zur Premiere von Ariel Dorfmans Polit-Thriller in London

Die erste Szene mutet an wie das Vorspiel zu einem Krimi der schwarzen Serie: Da steht eine Frau nachts auf der Veranda ihres Wochenendhauses, blickt versonnen aufs Meer und raucht eine Zigarette. Als sie das Motorengeräusch eines heranfahrenden Autos hört, schaltet sie das Licht aus und stellt sich mit gezückter Pistole im Anschlag in eine dunkle Ecke. Die erwartete Konfrontation mit den Insassen des fremden Autos bleibt jedoch zunächst aus: Paulinas Ehemann Gerardo hatte eine Reifenpanne und wird vom hilfsbereiten Roberto, einem Arzt, nach Hause gefahren.

Der Chilene Ariel Dorfman entwickelt aus dieser an Dürrenmatts Panne erinnernden Standardsituation einen politischen Psycho-Thriller. Die 40jährige Paulina wurde zur Zeit der Pinochet-Diktatur von Soldaten verschleppt und gefoltert. 15 Jahre später wird sie wieder mit diesem Alptraum konfrontiert: Der barmherzige Samariter Roberto, so behauptet Paulina, war einer der Folterknechte, der sie damals mißhandelteund vergewaltigte.

Als sie diese Erklärung abgibt, hat sie ihren früheren Peiniger schon im Schlaf überwältigt, ihn gefesselt und geknebelt. Mit der Pistole in der Hand erklärt sie ihrem irritierten Ehemann Gerardo, einem liberalen Rechtsanwalt, der gerade zum Vorsitzenden einer Untersuchungskommission zur Aufdeckung der schlimmsten Greueltaten der Pinochet-Henker vom Präsidenten eingesetzt wurde, warum sie sich nicht mit den rhetorischen Pflichtübungen eines Gerichtsprozesses begnügen kann. Sie will ein volles Geständnis des Mannes, der sie damals quälte und vergewaltigte, während er vom Tonband Schuberts Streichquartett Das Mädchen und der Tod spielen ließ.

In der Inszenierung von Lindsay Posner spielt die begeistert gefeierte Juliet Stevenson eine Paulina, die zwischen ganz extremen emotionalen Polen pendelt. Mit naiver Freude über die nun umgekehrte Täter-Opfer-Konstellation kostet sie die Hilflosigkeit des ihr ausgelieferten Roberto aus. Aber sie reagiert mit beinahe hysterischer Brutalität auf jeden Versuch Gerardos, diesen Fall von Selbstjustiz zu vereiteln. Paulina droht, Roberto zu erschießen, falls dieser nicht geständig ist, und ist doch verunsichert, als sich der Konflikt mit dem ungläubigen Gerardo, der letzte Zweifel an Paulinas Behauptungen nicht ganz ausgeräumt sieht, zuspitzt.

17 Jahre lang lebte der jetzt 50jährige chilenische Autor Ariel Dorfman, bisher nur als Romancier bekannt, im Exil. Als er 1990 nach Santiago zurückkehrte, stellte er sich die Frage, ob und wie das nationale Trauma des Pinochet-Terrors bewältigt werden kann. Sein Stück Der Tod und das Mädchen schrieb er in drei Wochen nieder: „Ich wollte schon lange ein Stück schreiben, das im klassich-aristotelischen Stil eine kollektive Katharsis auslösen kann“, erklärt Dorfman vor der Londoner Uraufführung in der Werkstatt des Royal Court Theatre. (Die taz veröffentlichte am 29.Juni 1991 einen Auszug aus diesem Stück im Rahmen des monatlich erscheinenden 'Index ob Censorship‘, Anm. d. Red.)

Dorfmans Dreipersonenstück ist in London ein Publikumserfolg. Die englischen Kritiker feiteren das Stück als bestes Bühnenwerk der Spielzeit. Daher wurde Der Tod und das Mädchen nun von der kleinen Experimentierbühne des Royal Court Theatre in ein großes Theater im Westend, das Duke of York's Theatre transferiert. Und auf den in den USA lebenden Dorfman — er lehrt an einer Universität in North Carolina — sind nun auch die amerikanischen Bühnen aufmerksam geworden: Ende des Monats wird das Stück mit Glenn Close, Gene Hackman und Richard Dreyfus am Broadway aufgeführt.

Ginge es nur um die Begleichung alter Rechnungen und um die Rache einer mißhandelten Frau, so wäre dies zwar ein gutgemeintes, doch nicht unbedingt sehr bühnenwirksames Stück. Dorfmans Kunst besteht darin, immer neue Fragen aufzurollen, Zweifel an der Identität des angeblichen Folterers und an Paulinas Behauptungen aufkommen zu lassen, so daß sich dem Zuschauer eine beinahe kafkaeske Rätselhaftigkeit offenbart, durch die er sich bis zum Schluß hindurchquälen muß. Scheinbar eindeutige Situationen und Verhaltensweisen werden plötzlich fragwürdig: Darf man, wie Paulina, mit Gewalt auf frühere Gewalttaten reagieren, um sich Genugtuung zu verschaffen? Warum sollte ausgerechnet sie, fragt sie sich selbst resigniert, Konzessionen machen und den Tätern vergeben? Könnte der Gerechtigkeit nicht wenigstens einmal — in ihrem Fall — zum Sieg verholfen werden?

Die realistisch angelegte Inszenierung von Lindsay Posner verzichtet darauf, den unwirklich-rituellen Charakter einiger Szenen auszuspielen. Nur die Schlußszene, in der sich Roberto während eines Kammerkonzerts wie ein Phantom neben Paulina plaziert hat, deutet an, daß es sich bei Paulinas Trauma auch um einen bösen Traum gehandelt haben könnte.

„Die Massenmedien suggerieren uns fortwährend, daß es für alle Probleme einfache Lösungen gibt“, erklärt Dorfman. „Doch ich wollte mich nicht auf so einen Entertainment-Kompromiß einlassen. Das würde nicht nur allen menschlichen Erfahrungen widersprechen, sondern jeder Gesellschaft schaden, die mit sich ins Reine kommen und ihre Vergangenheit bewältigen muß.“ Peter Münder