Kehraus des Stalinkults

■ „Vracenky“ von Jan Schmidt, einziger CSFR-Beitrag auf der Berlinale

In seinem halbstündigen Diplomfilm an der Prager FAMU, Schwarz-weiße Sylva, nahm der damals gerade 27jährige Jan Schmidt den in Mode stehenden Fortschrittsmythos der Arbeiter-und-Bauern- Macht beim Wort. Eine kesse Heldin des sozialistischen Aufbaus plumpst plötzlich von der Leinwand herab auf den Boden des realen Sozialismus und eckt mit ihrem Enthusiasmus allerenden an, bis ihre entgeisterten Erfinder keinen anderen Ausweg wissen, als Sylva in das systemtreue Ab-Bild des „sozialistischen Realismus“ zurückzumogeln. Das war 1961 ein komödiantisch-respektloser Vorgriff auf die „Neue Welle“ des Prager Frühling, der mit dem Einmarsch der Sowjets '68 ein blutiges Ende fand.

Dreißig Jahre später hat Jan Schmidt, der wegen wiederholtem Arbeitsverbot nur ab und an einen Film realisieren konnte, seinen subversiven Humor nicht preisgegeben. Sein jüngster Spielfilm Vracenky (gemeint ist ein Ballspiel, das heute nicht mehr gespielt wird; der für das Ausland bestimmte Titel Lenin, der Herrgott und die Mutter ist so idiotisch wie irreführend) taucht in eine Kindheit in den frühen 50er Jahren, unmittelbar vor dem Ende Stalins. Dessen Konterfei lauert allgegenwärtig in Haus und Schule. Ein schlauer Schulbub entledigt sich der steten Beaufsichtigung auf seine Weise. Ein entschlossener Biß in die Wade verschafft erst einmal schulfrei, und schon können die abenteuerlichsten Spuren des Lebens aufgenommen werden. Verblüffenderweise führen sie immer wieder zum sündigen Liebesleben der eigenen Mutter. Am Schluß verehrt ihr der eigensinnige Zögling einen stattlichen Stalin-Band aus dem Ausverkauf — doch da ist der Ex-Potentat nicht nur in den häuslichen vier Wänden unversehens out.

Mit Jan Schmidts durchaus sehenswertem Schwarz-Weiß-Film gab die Berlinale — wie viel zu oft — Bekanntem und Bewährtem den Vorzug. Dadurch bleibt der ähnlich angelegte, jedoch noch weit unbefangenere Kehraus auf den Stalin-Kult in Böhmen des erst sechsundzwanzigjährigen Jan Svěrák — Obecná škola/„Grundschule“ — in Deutschland (vorerst?) weiter unbekannt. Eine Risikoscheu, die sich selbst vom Oscar-Gremium beschämen lassen mußte, das das erstaunlichste Barrandov-Debüt des vergangenen Jahres als besten ausländischen Film nominierte. Roland Rust

Jan Schmidt: Vracenky. Mit: Jan und Martin Morávec. CSFR 1990. Buch: Milan Ležak. Kamera: Jiří Krejňík. (O.m.engl. UT) 95 Min.

24.2., Filmpalast, 21.15 Uhr