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Kartenspiel und Raki — was will man mehr?

Gleiche unter Gleichen: Türkische Rentner sind aktiver Teil des Soziallebens/ Sie halten sich mit Mieteinnahmen aus früher erstandenen Immobilien über Wasser/ Doch ohne die Unterstützung der Kinder würde die Rente nicht reichen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der sechzigjährige Rentner Süleyman sitzt in einer Spielhölle im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Über eine dunkle Treppe in einem Café gelangt man in den kalten Raum, in dem die Männer Tee trinken und Karten spielen. Süleyman hat sich in seinen Mantel eingewickelt und zockt. Ich muß Stunden warten, bis das Spiel beendet ist. In der Zwischenzeit klärt mich ein Bekannter Süleymans, der das Spiel nur als Zuschauer verfolgt, über das Leid der Rentner auf: „Zum Teufel mit dem Staat. Die Auszahlung der Renten ist ein Skandal.“

Immer wieder berichten die Zeitungen darüber. Stunden vor Öffnung der Schalterhallen müssen die Alten vor der staatlichen Landwirtschaftsbank Schlange stehen, bis die Renten endlich ausgezahlt werden. Auch Süleyman, der die Karten inzwischen weggelegt hat, kann ein Lied davon singen: „Am 15. jedes Monats stehe ich um vier Uhr morgens vor der Bank. So hast du wenigstens die Chance, gegen Mittag an dein Geld zu kommen.“ Wer verschläft, hat Pech gehabt: „Wenn du erst um sieben Uhr zur Bank gehst, bekommst du dein Geld nicht mehr am gleichen Tag“, sagt Süleyman. Er steht acht Stunden in der Schlange, um schließlich seine 960.000 türkischen Lira (umgerechnet 280 DM) zu kassieren — nach 25 Dienstjahren in der Schiffskantine der staatlichen Fährbetriebe. Zum Leben reicht es kaum.

Dennoch schätzt Süleyman — wie die meisten Alten — das Rentnerdasein: „Wenn es nicht das Problem mit der niedrigen Rente geben würde, wäre das Leben als Rentner himmlisch. Es ist toll. Du hast viel Freizeit, du kannst Dinge machen, von denen du als arbeitender Mensch nur träumen kannst.“

Gegen elf Uhr morgens steht Süleyman auf. Er frühstückt und spaziert danach zum Kaffeehaus, wo er den Nachmittag mit Kartenspiel verbringt. Später geht er in die Meyhane— jenen Ort, wo türkische Männer den Anisschnaps Raki zu trinken pflegen. „Obwohl ich sechzig bin, fühle ich mich nicht alt, sondern jung. Ich spiele Karten, ich trinke Raki, jeden abend eine halbe Flasche. Was will ich mehr?“

Fassungslos schaut Süleyman mich an, als ich das Stichwort von der „Ausgrenzung der Rentner“ einbringe. „Ich bin doch sowohl im Kaffeehaus als auch in der Meyhane ständig mit jungen Menschen zusammen“, sagt er. Altersheime kennt die türkische Gesellschaft nicht. Die Alten sind aktiver Teil des Soziallebens. Man ehrt sie nicht nur als Quelle der Lebensweisheit, sondern man erkennt sie als Gleiche unter Gleichen an: Im Kaffeehaus als Spieler, in der Meyhane als gesellige Trinker. „Das Alter hat mehr Vorteile als Nachteile“, meint Süleyman. „Auch das Geld ist eigentlich kein Problem.“ Jedermann weiß, daß er wenig Geld als Rentner hat. So ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die anderen die Rechnung für den Raki zahlen.

Die mickrige Rente reicht natürlich dennoch nicht für den Lebensstil, den Süleyman pflegt. Doch er muß keine Miete zahlen. Nahezu jeder Türke kauft sich vor seiner Verrentung mit dem angesparten Geld eine Eigentumswohnung. Manchmal reicht es sogar für mehrere Wohnungen. Mit Sinn für Realität vertrauen sie eher auf die Mieteinnahmen aus den Immobilien denn auf die Rentenversprechungen des türkischen Staates.

Doch noch wichtiger als Immobilien ist für Süleyman die Sicherheit, die ihm seine erwachsenen Kinder bieten. Er hat drei Söhne. „Alle im besten Alter“, sagt er. Ohne sie gäbe es kein Auskommen, sie unterstützen ihn jeden Monat. „Natürlich finde ich es nicht richtig, daß ich auf meine Söhne angewiesen bin. Aber es geht eben nicht anders“, berichtet Süleyman und zuckt mit den Schultern. Nie hat er seine Söhne um Geld gebeten. Ethik und Moral gebieten es von selbst, daß Kinder ihren Eltern helfen — selbst wenn es dabei um Geld geht, das der Vater in Spielhöllen verjubelt.

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