Eine Reise ans Ende der Nacht

■ Susan Oswells großartiges Lear-Fragment „Rosetta klopft“ am Münchner Marstall-Theater

Die „Laokoon“- Tanztheater-Crew und der Komponist Franz Hummel — das ist fast so etwas wie ein Künstler-Märchen; eine Künstler-Kommune, die seit einem Dutzend Jahren funktioniert, weil sie nicht auf Psycho- oder Sozio- Experimenten beruht, sondern auf Kooperation und Kampf. Mehr als zehn Stücke sind im vergangenen Jahrzehnt entstanden; zuerst in enger Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Theater am Turm und nun schon einige Zeit unter der Patronage des Münchner Marstall-Theaters.

„Laokoon“ hat ein großes Thema: die Suche nach der verlorenen Zeit, die „schmerzensreiche“ kollektive Erinnerung an die Schädelstätte der grandiositätssüchtigen und gewalttätigen europäischen Moderne, deren Mythen „Laokoon“ eher zertrümmert als rekonstruiert.

Gedanken als Attacke; Geschichte als Müllabladeplatz. Das Riedenburger Team betreibt Archäologie — im Sinne Foucaults. Und weil Sigmund Freud für den Komponisten Franz Hummel (der ihm eine „Blaubart“-Kammeroper gewidmet hat), für die „Laokoon“- Chefin Rosamund Gilmore und wohl auch für ihre (so ganz andere ) „Primadonna“ Susan Oswell der Überpapa ist, liegen die Masken des Ich und der Schrott des Unbewußten als Kultur- und Alltagsplunder auf der Bühne. Requisiten sind bei ihnen verdinglichtes, in Schock und Traumatisierung erstarrtes Leben — und sie können mit einem Mal zu einem neuen gespenstischen Dasein erwachen.

Eine Lear-Parabel nennt Susan Oswell ihr erstes eigenes Stück. Susan Oswells Narr ist blind, weil er den Text der Herrschaft als Binde vor den Augen hat; die Selbstbehauptung des verletzten Königs „erschöpft“ sich in minutenlangen, monomanen Schreiorgien und Vernichtungsekstasen.

Wenn das deutsche Tanztheater in den letzten Jahren in die Krise geriet, dann sicher auch, weil es zunehmend in einem ritualisierten Inventar von Szenerien und Bewegungen erstickt, weil vieles Geste, Behauptung, Attitüde blieb. Das Faszinierende am Debüt Susan Oswells ist, daß alles, was sie aus diesem monströsen Welt- Fragment „Lear“ herausreißt und mit ihrem eigenen Leben, mit Gegenwartserfahrung vermengt, in jedem Detail sinnlich und dramatisch plausibel wird: als unmittelbare Aktion.

In Rosetta klopft gibt es als „spitze“ Höhepunkte Pas de deux; aber sie sind verzerrt, verschoben, dekonstruiert; weniger Tanz als wüstes, virtuoses Geschlinge. Ein Kampf um Anerkennung und die äußerste Zurichtung der menschlichen Natur, die Ballett ja immer war; der Prozeß der Zivilisation als Dressurakt. Bei Susan Oswell ist aber die Akkuratesse der Körper- und Selbstbeherrschung verwandelt in Torkeln, Taumeln, schwindeligem Sich- Drehen, die freilich, ein Paradox!, nur mit vollkommener Präzision und Disziplin darstellbar sind.

Lear (großartig: Ian Owen) und der Narr (Padmini Baun) gieren und hassen; es sind böse Kobolde ihrer eigenen kaputten Biographien. Die Welt, das Drama sind reduziert auf Verstellung und Maskenspiel. Das Lear'sche Wüten, dieser außer Rand und Band geratene Rollen-Korso, berührt und beschädigt alles. Und Rosetta, die Einlaß begehrende Unschuld (Katharina Fritsch), wird in diese ganze enthemmte Daseinsmaskerade losgelassener Partialtriebe und Herrschaftsreste (die Krone, der Stab, das Gesetzbuch, der Käfig, die von der Decke baumelnden Stühle) hineingetrieben und soll am Ende hängen; stellvertretend für das Haß- Liebe-Objekt Cordelia, der Lear sein Erbe und seine Zuneigung verweigerte, weil sie sich nicht wie ihre Schwestern zur kalt kalkulierenden Stimmenimitatorin, zum Plappermaul seiner verzweifelten Wünsche machen lassen wollte.

Dieser „Laokoon“-Lear präsentiert die Tragödie als exzentrische Farce, als „Abwicklung“ von 500 oder 3.000 Jahren europäischer Geschichte, wobei dann beim verrückten König unter dem pompös-transvestitischen Rock die weißen, nackten Beine hervorschauen, und der Narr sämtliche Moden als Fetzenreste übereinander trägt, als wollte er Punk, Femme fatale, Aerobic-Queen und eine merkwürdige, weltentrückte Heilige zugleich sein.

Aufklärung als Bizarrerie und als Reise ans Ende der Nacht: Im Bühnenhintergrund sitzt der alte Virgil Eiter mit seiner steirischen Harmonika und spielt entrückte Landler; und die sehr tanzbare Begleitmusik (aus Franz Hummels Cellokonzert und aus seiner Violin-Sinfonie) ist traurigstes Resümee, grelle Klage über das Verlorene und Nie-Gewesene und, als Kontrapunkt, ein vitalistisches Sich-Aufbäumen: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Gabriele Mayer

Die Produktion wird ab 20.März in Neuburg/Donau wiederaufgenommen