AUFRUF
: Kuba muß eine Chance erhalten

■ Für die Rettung und Demokratisierung des kubanischen Entwicklungsmodells

Seit dem Erfolg der kubanischen Revolution gegen die Rechtsdiktatur Batistas am 1.Januar 1959 sucht die US-Regierung die politische Restauration Kubas zu betreiben. Daß das Revolutionsregime Castros dem bisher nicht zum Opfer fiel, verdankt es

—einer Massenbasis in der kubanischen Bevölkerung, die die Ergebnisse der kubanischen Revolution zu Recht als deutliche Verbesserung gegenüber früheren Zuständen betrachtet;

—der Sympathie einer internationalen kritischen Öffentlichkeit auch in Westeuropa, vor allem wegen des eklatanten positiven Unterschieds der sozialen Verhältnisse Kubas zu anderen lateinamerikanischen Ländern;

—der wirtschaftlichen Unterstützung Kubas durch die ehemalige Sowjetunion und andere Staaten des früheren Comecon, darunter die ehemalige DDR, in der Zeit der Block- Konfrontation.

[...] Die wirtschaftliche Hilfe durch die Sowjetunion und andere war für Kuba nur deshalb notwendig, weil die USA mit dem Instrument der Wirtschafts- und Handelsblockade einen anhaltenden Wirtschaftskrieg gegen Kuba betreiben. Die amerikanische Absicht hat nur vordergründig etwas damit zu tun, daß in Kuba eine kommunistische Einparteienherrschaft besteht. Die USA haben bisher kein sozialrevolutionäres oder sozialreformerisches Modell in Lateinamerika akzeptiert (mit Ausnahme vorsichtiger Korrekturversuche der kurzen Präsidentschaft Carters) — vor allem Kuba wurde von den USA stets als eine Art Kolonie betrachtet. Die US-amerikanische Wirtschafts- und Handelsblockade begann ja nicht erst, als Castro sich mit der Sowjetunion verbündete und einen kommunistischen Einparteienstaat errichtete, sondern als sofortige Reaktion Washingtons auf die Nationalisierung des amerikanischen Großgrundbesitzes in Kuba.

Wer über Kuba redet, der darf nicht vergessen, daß die Revolution unter der Führung Castros eine demokratische Sozialrevolution gegen eine asoziale Militärdiktatur war, einem Eldorado von Großgrundbesitzern, Spielbanken und Bordellen für die amerikanische Upperclass. Erst der amerikanische Versuch, diese Revolution sofort wieder zu liquidieren und damit solchen Versuchen in Lateinamerika insgesamt vorzubeugen, hat Kuba in die Arme und in die Abhängigkeit der Sowjetunion getrieben [...].

Nachdem durch den Verfall des Ostblocks Kuba seine wirtschaftlichen Partner der letzten drei Jahrzehnte verloren hat, geben viele jetzt keinen Pfifferling mehr auf das kubanische System insgesamt und betrachten es nur als eine Frage der Zeit, bis es ebenso einstürzt wie die Sowjetunion und andere. Auch die kritische internationale Öffentlichkeit, die sich bisher gegen die Eliminierungsversuche des kubanischen Systems durch die USA gestellt hat, sieht inzwischen überwiegend stillschweigend zu oder beteiligt sich aktiv daran, das kubanische Regime zum Paria Lateinamerikas zu stempeln — als den letzten Menschenrechtsverächter dieses Kontinents. Wer mag sich schon für politisch Todgeweihte einsetzen?

Doch diese Sicht ist eindeutig falsch und politisch weit über Kuba hinaus verhängnisvoll. Zwar gibt es in Kuba keine liberalen Freiheitsrechte westlichen Musters und keine Demokratie. Andererseits sind in keinem Land Lateinamerikas die sozialen Menschenrechte besser verwirklicht worden als in Kuba, und auch die USA könnten sich hier dicke Scheiben abschneiden: So ist die Kindersterblichkeit in Washington höher als in Havanna. Und wenn z.B. in Brasilien die Todesbrigaden ungehindert hungernde Kinder vor Luxushotels abknallen können, fällt es schwer, diesem oder anderen offiziell demokratischen Ländern Lateinamerikas mehr Beachtung individueller Menschenrechte zu bescheinigen. Außerdem sollte nicht vergessen werden, daß Kuba durch die anhaltende amerikanische Blockade bisher keine Cahnce hatte, sich wie ein Staat im Zustand äußeren Friedens zu entwickeln. Die tatsächliche Situation ist die eines Kriegszustandes in der Phase eines langanhaltenden, aber vorläufigen Waffenstillstandes, was selbstverständlich negative Folgen für die Chance innerer Demokratisierung hat [...].

Die Erwartung nach innerer Demokratisierung Kubas soll und darf nicht bedeuten, daß der Preis dafür die Rückkehr in den Status einer amerikanischen Halbkolonie und der Ruinierung der für ein Entwicklungsland beachtlichen sozialen Fortschritte ist. Es gibt keinen Sinn — weder für die Menschen in Kuba noch für die internationale Staatengemeinschaft — in Kuba jetzt ein soziales System zu zerstören, das aus eigener Kraft aufgebaut wurde, was anschließend mit keinem der bisher praktizierten Entwicklungshilfeansätze wieder aufgebaut werden könnte. Wer die Demokratisierung Kubas ernsthaft will, muß sich gleichzeitig entschiedener als gerade modern gegen die amerikanische Wirtschafts- und Handelsblockade wenden. Es ist heuchlerisch, von Kuba die Achtung individueller Menschenrechte zu fordern und gleichzeitig die völkerrechtswidrigen Aktionen der amerikanischen Regierung gegenüber Kuba zu tolerieren. Gleichzeitig ist es verlogen, Kuba die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit zu verweigern wegen mangelnder innerer Demokratie — und gleichzeitig Gelder in andere Entwicklungsländer fließen zu lassen, die kein Stück demokratischer sind als Kuba, aber im Unterschied zu diesem sozial ausbeuterische Herrschaftsstrukturen haben.

Die amerikanische Regierung hat seit dem Verfall des Ostblocks den Wirtschaftskrieg gegen Kuba sogar zusätzlich verschärft — bis hin zur Verhinderung der Lieferung medizinischer Fachliteratur! In sogar zunehmendem Maße versucht Washington, Druck auch auf andere Staaten auszuüben, sich an diesem Wirtschaftskrieg zu beteiligen. Dadurch und durch den Wegfall ihrer bisherigen Wirtschaftspartner steht Kuba jetzt in existentieller Not. Durch den Zerfall des Comecon hat Kuba 85 Prozent seiner Handelsbeziehungen verloren, so daß jetzt die US-Regierung die Gelegenheit nutzen will, durch eine Verschärfung der wirtschaftlichen Pressionen das kubanische System endgültig zu strangulieren: Durch eine hungernde Bevölkerung soll dem kubanischen Regime die immer noch vorhandene Massenbasis entzogen werden.

Kuba hat aber auch die Chance, zu den Grundlagen der demokratischen Sozialrevolution von 1959 zurückzukehren. Dies bedeutet: Aufrechterhaltung des sozialen Entwicklungsmodells, Demokratisierung und Reform des Systems statt Systembruch. Voraussetzung dafür ist ein Gegenkurs zur US-Politik gegenüber Kuba. Zu fordern ist die sofortige Aufhebung der US-Wirtschaftsblockade. Wenn die USA dies nicht tun, müssen andere Staaten — allen voran die europäischen — diese Wirtschaftsblockade umgehen. Zu fordern ist auch, daß die deutsche Bundesregierung ihre Verpflichtung aus dem Artikel 29 des Einigungsvertrages mit der ehemaligen DDR einhält, die von der früheren DDR- Regierung abgeschlossenen internationalen Handelsvereinbarungen zu erfüllen. Die erfolgte Einstellung der Lieferverpflichtung von z.B. 20.000 Tonnen Milchpulver an Kuba entzieht kubanischen Kindern lebenswichtige Nahrung. Die Bundesregierung sollte sich zu schade sein, die US-amerikanische Erpressungsstrategie mit rechtswidrigen und inhumanen Mitteln mitzumachen.

Kuba ist durch die USA in seine jetzige innere Situation getrieben worden. Wer diese überwinden will, muß dafür eintreten, daß Kuba endlich eine faire Chance erhält, sich ungehindert und selbständig zu entwickeln. Wenn statt dessen sogar politische Strömungen in Europa, die sich für die soziale Demokratie einsetzen, die Anpassung an die USA-Politik vorziehen, verhalten sie sich in beschämender und selbstschädigender Weise opportunistisch. Kuba ist immer noch eine soziale Hoffnung für die Dritte Welt, und ohne soziale Hoffnung bleibt die demokratische Hoffnung leeres Gerede. Es wäre eine schreckliche und die demokratische Idee schwerwiegend beschädigende Erfahrung für ganz Lateinamerika, wenn Demokratisierung gleichbedeutend sein soll mit dem Verlust sozialer Rechte [...]. Hermann Scheer

SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses