Sexualität durch Hausaufgaben lernen

■ Es muß nicht immer ein Orgasmus sein/ In der Paargruppentherapie des Sozialmedizinischen Dienstes lernen Paare, entspannt und lustvoll miteinander umzugehen/ »Wir müssen uns erst einmal wieder mit unserem Körper anfreunden«

Charlottenburg. Der eheliche Beischlaf war für Veronika S. immer eine unangenehme Pflicht, die sie steif wie ein Brett über sich ergehen ließ. »Das erste Mal war ein Schock für mich, so wenig zartfühlend«, erinnert sie sich. »Was dann kam, war immer das gleiche: Beine breit, raus, rein, umdrehen.« Auch mit den Kindern, die sie gern von ihrem Mann Rainer* gehabt hätte, wollte es nicht klappen. Er war der Meinung, das alles sei ihr Problem. Daß er sie manchmal schlage, sei zwar auch nicht schön, aber bei ihm sei schließlich alles in Ordnung.

»Ich habe als Mädchen immer gelernt, daß Sexualität etwas Schmutziges und ein Tabuthema ist, ich aber brav und sittsam sein sollte«, erzählt Marianne G. Entsprechend passiv habe sie sich im Bett verhalten. Sie habe auch nicht über das reden können, was sie empfand oder nicht empfand. Ihr Mann Friedhelm dagegen wünschte sich eine temperamentvolle Partnerin und hatte das Gefühl, mit seinen Bemühungen immer in einer Sackgasse zu landen. Die für beide Seiten unbefriedigenden sexuellen Begegnungen wirkten sich auf das ganze Zusammenleben negativ aus.

Seit einem dreiviertel Jahr treffen sich beide Paare jeden Dienstag mit drei weiteren zur Paargruppentherapie des Sozialmedizinischen Dienstes in Charlottenburg. »Hierher kommen vor allem Paare mit sexuellen Problemen«, sagt die Psychologin Christel Stoeckert. Darunter sind Paare, die noch nie oder seit Jahren nicht mehr miteinander geschlafen haben, solche mit funktionellen Störungen, Erregungs- oder Orgasmusschwierigkeiten oder auch schlicht von Lustlosigkeit gezeichnete. Ihrer Ansicht nach haben sexuelle Störungen immer ihre Gründe. »Probleme in der Kindheit, in der Beziehung zu sich selbst und zum Partner zeigen sich in der Sexualität wie durch ein Brennglas.« Das Ziel der Therapie ist es, angstfrei und verantwortungsbewußt erlebte und genossene Sexualität als Voraussetzung für eine zufriedenstellende Partnerschaft zu ermöglichen. Vor allem schulen die TeilnehmerInnen Sinne und Sinnlichkeit. Sie sollen sich von der leistungsorientierten Jagd nach dem Orgasmus lösen zugunsten eines entspannten und lustvollen Erlebens. »Wenn ein intensiver Kontakt entsteht zu mir selbst und zum Partner, dann ist die Begegnung befriedigend, egal wie weit sie gegangen ist«, sagt Christel Stoeckert.

Um in einer Beziehung Befriedigung und Vergnügen zu erleben, müssen die Beteiligten sich erst einmal über ihre eigenen Wünsche klarwerden und diese auch äußern. »Vor allem Frauen warten immer noch darauf, daß ein Prinz sie nicht nur wachküßt, sondern auch, daß er Hellseher ist und alle ihre Wünsche errät«, so Stoeckert. Statt dessen sollten Frauen lernen, für ihre Sexualität selbst die Verantwortung zu übernehmen. Dabei setzt sie auf lerning by doing. Wöchentlich bekommen die beteiligten Paare Hausaufgaben auf den Weg, die gemachten Erfahrungen werden in der nächsten Sitzung besprochen. Eine der Hausaufgaben besteht darin, sich regelmäßig eine halbe Stunde nackt vor den Spiegel zu stellen und genau zu betrachten. Der eigene Körper soll kennengelernt und akzeptiert werden, wie er ist, wie er aussieht, riecht, schmeckt, reagiert. »Wir müssen erst wieder Kontakt mit unserem Körper aufnehmen und uns mit ihm anfreunden«, sagt der Therapeut Hans Christoph Willi.

Dreimal in der Woche sollen sich die Paare dreißig bis sechzig Minuten Zeit füreinander nehmen, was sich im Alltag als gar nicht so leicht herausstellte. »Wir mußten uns regelrecht verabreden, wie zu Beginn unserer Beziehung«, erinnert sich eine Teilnehmerin. In dieser Zeit wird das Streicheln geübt, eigene Wünsche und Bedürfnisse sowie die des Partners werden erkundet und geäußert. Geschlechtsverkehr ist in den ersten Wochen der Therapie verboten.

Veronika S. hat dabei ganz neue Seiten an ihrem Mann entdeckt. »Wir haben festgestellt, daß wir es beide gern vorsichtig und zart haben. Wir gehen jetzt viel sanfter miteinander um und können auch über alles sprechen«, sagt sie.

»Ich habe gelernt, Veronika in ihren Reaktionen wahrzunehmen und konnte mich auch selbst beobachten«, erzählt Rainer. Auch wenn sie jetzt wieder miteinander schlafen, sei der Geschlechtsakt nicht mehr das wichtigste. Durch die neue Freude am Sex habe sich ihre Beziehung als ganze belebt und stabilisiert, sagt Friedhelm G. »Wenn wir uns gerade nicht gut verstanden haben, sind wir uns durch die »Pflichtaufgabe« des Streichelns wieder näher gekommen.« Das Leben als Ganzes sei farbiger geworden, findet auch seine Frau.

Die Paare ernteten häufig nicht die Erfolge, die sie sich vorher vorgestellt hätten, sagt Christel Stoeckert. Die meisten wollten vorher »richtig funktionieren«, ohne jedoch an sich oder an ihrer Beziehung etwas zu tun. Anders gelebte Sexualität sei aber ohne Weiterentwicklung der ganzen Persönlichkeit nicht möglich. »Veränderung bedeutet immer auch ein Risiko, das viele scheuen«, sagt die Psychologin. »Ein Kerker ist zwar ein Kerker, aber dort bin ich in Sicherheit und kenne mich aus. Jeder Aufbruch dagegen ist zunächst bedrohlich.« Corinna Raupach

* Namen von der Redaktion geändert