Lieber Vater,

Berlin-Charlottenburg, 28.2.92

Der öffentliche Weg, Dich zu suchen, scheint für mich der schwierigste zu sein.

Ich wähle ihn, nachdem ich begriffen habe, wie wenige Mütter und Kinder ihn — auf Grund von Scham, Schweigen und gesellschaftlicher Ächtung — gehen können.

Immer auf der Kante, für ein wenig ver-rückt zu gelten: niemand kann mir Deinen Namen sagen. Mutter ist seit 20 Jahren tot und nahm ihr Geheimnis mit ins Grab.

Du konntest ihr weder Deine Feldnummer hinterlassen noch schreiben. Ihr Tagebuch nennt Deinen Namen nicht. Dir drohte die standrechtliche Erschießung, wenn eure Liebe entdeckt worden wäre. Du hättest Deine Deportation ihr auch nie mitteilen können. Wenn Millionen von Menschen ab 1934 dieses Schicksal schon ereilt hatte, warum nicht auch Deine Familie. Hoffentlich seid ihr dennoch verschont geblieben.

Wenn Du 17 Jahre jung warst im April 1945 — hast Du als Späher im Großen Vaterländischen Krieg mit gefälschtem Geburtsdatum als 12jähriger Deine Geschwister, Deine Mutter und Deinen Vater verlassen?

Was hast Du in den Jahren bis Berlin gesehen, gefühlt, erlebt? Wieviel Freunde haben tot neben Dir gelegen? Oder hast Du sie verlassen müssen, als sie nicht einmal tot waren?

Hat der Schutz vor Vergewaltigung, den Du meiner Mutter schenktest, sie bewegt?

Ihr Ehemann arbeitete im Waldhaus — damals zum Lazarett verwandelt —, er liebte dort eine. Beide Frauen bekamen beinahe zur gleichen Zeit Töchter. Das war kein Geheimnis. Briefe hab ich gelesen, meine Mutter hat mich ihrem Ehemann untergeschoben, diese Freundin erzählte 40 Jahre lang ihrer Tochter von einem anderen Vater als dem wirklichen.

Du warst 17, hast fünf Jahre Mord und Verbrechen, Blut und Grausamkeit und wieder Mord verhindert, verursacht und erlebt. Wie kam es zur schönsten menschlichen Beziehung im Leben meiner Mutter?

Die Suche nach Dir mache ich mit Kamera, Ton und Team. Das GUS-Fernsehen wird das Suchvideo Kuss bis zum Veteranentreffen in Moskau am 8. Mai 92 ausstrahlen. Ich spreche nicht russisch. Die Übersetzerin ist dabei. Ich bin so zögernd wie neugierig, ob in dieser russisch uferlosen Situation, in der sich Tausende Westeuropa-Kontakte wünschen, sich nicht auch ganz andere melden werden. Aber all das sind vorübergehende Probleme.

Das wichtigste ist, daß Du lebst, gesund bist, mit deinen 62 Jahren.

Ich erzähl' Dir in Ruhe, wie ich auf die Lebenslüge der Mutter von einer Freundin aufmerksam gemacht wurde, wie ich 20 Jahre Tod und das Schweigen der gesamten Familie umgehen konnte. Es war eine langer... langer Weg, und ich bin noch unterwegs... Annette Eckert