Goldstücke in der Fernsehkultur

In Marl wurden die Gewinner des 28. Adolf-Grimme-Preises bekanntgegeben  ■ Von Karl-Heinz Stamm

Mitglied der Jury „Allgemeine Programme“ des Adolf-Grimme-Preises zu sein, das heißt sieben Tage lang Fernsehen. Das sind 45 Stunden Konzentration und Kampf gegen Müdigkeit, das sind Phasen der Heiterkeit, bisweilen Gelächter, aber auch Minuten der Betroffenheit. Hat es sich gelohnt? Es hat. Denn was da 14 Juroren (Journalisten, Kritiker, Medienwissenschaftler und Bildungsfachleute) am Ende prämiert haben, zeigt die Qualität der bundesrepublikanischen Fernsehkultur.

Erfreulich, daß die ausgewählten Beiträge aktueller, zeitbezogener waren, als man gemeinhin denkt. Und es wurden denn auch drei Produkte prämiert, die direkt oder indirekt das Zusammenwachsen der beiden Staaten zum Thema haben. So ist der Dokumentarfilm Letztes Jahr — TITANIC ein genaues Spiegelbild der alltäglichen Veränderungen der DDR im Laufe des letzten Jahres. Distanziert und ruhig zeigt der Autor und Regisseur Andreas Voigt — an den Bronze vergeben wurde — eine Lebenswelt, die so nicht mehr lange existiert. Nicht die große Story steht im Vordergrund, sondern die alltäglichen Lebenszustände. Die Produktion der DEFA-Dokumentarfilmstudios, die unprätentiös und ruhig das Leid in der Umbruchphase zeigt, ist heute schon ein historisches Dokument.

In Michael Kliers Ostkreuz ist das neue, grenzenlose Berlin der Hintergrund für diejenigen, die im Nichts gestrandet sind. Der einfach und schnörkellos strukturierte Film handelt von Menschen, die die Wende ins gesellschaftliche Abseits manövriert hat. Jetzt leben sie in Containern und warten darauf, daß es einmal besser wird. Die dunkle, düstere Ästhetik des Films entspricht der Tristesse des Alltags, in der sich die fünfzehnjährige Elfie langsam von ihrer Mutter löst. Ostkreuz wurde mit Bronze prämiert.

Einen ganz anderen Blick auf die ostdeutsche Realität vermittelt Claus Räfle mit Die Heftmacher. Die Jury war von dem frischen, frechen 25-minütigen Beitrag, der die Praktiken des Ostberliner Boulevarblattes 'Super‘ vorführt, begeistert. Nicht die Opfer des Schmierenjournalismus wurden zum Gegenstand der Polemik, sondern die Dreistigkeit der Macher wurde filmisch auf sie selbst angewendet. Die rüden, aber auch rührend bis ins Peinliche gehenden Arbeitsmethoden der Journalisten werden auf hohem satirischem Niveau entlarvt. Wie die Videoclip- Ästhetik sowie die eingeblendete Schriftsprache die szenischen Bilder konterkariert, war der Jury Gold wert.

Auch Fremde liebe Fremde (Silber für die Hauptdarstellerinnen Katharina Braun und Meret Becker) sowie Wheels and Deals (Bronze für Michael Hammon, Buch und Regie) haben einen aktuellen Zeitbezug. Beim ersten ist es die Revolution in Rumänien, beim zweiten die Armut und Ausweglosigkeit der Menschen in Südafrika. Daß das „Flaggschiff“ des deutschen Fernsehens, das Fernsehspiel, sich den neuen Gesetzmäßigkeiten anpaßt — schnelles Tempo, knallige Dramaturgie — macht das mit Bronze ausgezeichnete Stück von Xaver Schwarzenberger deutlich. Auch in diesem Jahr hatte der einstige Kameramann von Fassbinder mit Der Rausschmeißer ein Stück vorgelegt, das die Jury zu überzeugen vermochte. Ein Melodram, das der Hauptfigur (Claudia Messner) Zeit gibt, sich zu entwickeln. Deshalb ging der Preis nicht nur an Schwarzenberger, sondern auch an sie.

Gold auch für Alexander Kluges Das Goldene Flies. Die Jury war sich darüber einig, daß dieser Regisseur wie kein anderer die gewohnte Fernsehrezeption unterminiert und eine eigene Fernsehsprache entwickelt hat, die mit ihrer Perfektion an die Grenze des audiovisuellen Mediums gestoßen ist. Indem Kluge eine Untertextzeile als laufendes Band einblendet, gelingt es ihm, gleichsam eine dritte Ebene zu gewinnen.

Auch wenn es gerade die Novizen in der stark verjüngten Juryrunde waren, die sich anfänglich gegen die Vorschußlorbeeren für Kollege Otto — Die coop-Affäre wandten, so mußten sie sich doch überzeugen lassen, daß dieses Dokumentarspiel eine herausragende Rolle unter den gegenwärtigen Fernsehproduktionen hat. Mittels Dokumentaraufnahmen, Spielfilmszenen, Interviews zeigt Breloer nicht nur den Niedergang der gewerkschaftseigenen Handelskette, sondern auch den Zusammenbruch eines Ideals, das die Gewerkschaftsbewegung einst erkämpfte: die Idee von der Gemeinwirtschaft. Gold für Darsteller Rainer Hunold, Cutterin Monika Bednarz-Rauschenbach und für Heinrich Breloers Buch und Regie.

Zwar sah es lange so aus, als würde Hans Erich Viett mit Schnaps im Wasserkessel zum Überraschungserfolg, am Ende reichte es aber dann „nur“ noch für Bronze. Allzu romantizistisch war den meisten dann doch die Liebeserklärung des Regisseurs an seine ostfriesische Heimat. Trotzdem, wie da einer mit der Kamera geduldig hinschauen und den Alten beim Geschichtenerzählen zuhören kann, hat gefallen. Der vom ZDF produzierte Dokumentarfilm zeigt eine Welt von gestern, die kurz vor dem Untergang steht.

Wenn im Februar eine Weihnachts-Gala noch unterhaltsam ist, bürgt das für Qualität. Gala — Weihnachten mit Harald Schmidt, heißt der Beitrag des ehemaligen Kabarettisten, der ein brillantes Feuerwerk seines skurrilen Humors zeigt. Faszinierend, auf welchem Niveau die Selbstpersiflage des Genres dargeboten wurde. Auch wenn Hape Kerkeling ein Jahr zuvor in Marl schon Maßstäbe setzte, bestand die Jury für die Regie und Harald Schmidt, den Showmaster, auf Bronze.

Als nach sieben Tagen und zwei Abstimmungen dann alles vorbei war, war die Überraschung groß: Trotz der Fülle an Beiträgen hatte man für zehn einen Konsens finden können. Man könnte einwenden, daß die Preise nicht mehr als den Bewußtseins- und Diskussionsstand der 14 Juroren widerspiegeln. Doch angesichts der Qualität der Diskussion, die zeitweise dem Idealtypus eines herrschaftsfreien Diskurses im Habermasschen Sinne entsprach, und der Zusammensetzung der Jury ist das jedoch nicht wenig. Ganz wie in den Statuten gefordert, war die Debatte das Element der Preisfindung. Bei so viel Lob ein kleines Malus: Der Debatte fehlte die ostdeutsche Sicht, sprich ein Juror aus den neuen Ländern.