Die Hilflosigkeit der Linken

■ Kritische Bücher zur "Euthanasie"-Debatte: Ernst Klee/Oliver Tolmein/Theo Bruns/Till Bastian/Christoph Franz * Verl.: Fischer/Konkret Literatur/Libertäre Assoziation/Hirtzel,Weiss/Kiepenheuer & Witsch

Im Sommer 1989 provozierten Einladungen an den australischen Moralphilosophen und Direktor des Center for Human Bioethics an der Monash University in Clayton/Vic., Peter Singer, in der BRD heftige und bis jetzt andauernde Auseinandersetzungen zur „Euthanasie“. In diesem Kontext stehen alle hier vorgestellten Bücher, alle nehmen auch direkt auf Singer Bezug.

Ernst Klees Beitrag Durch Zyankali erlöst (eine frühere 'Bild‘- Schlagzeile) verweist auf eine Praxis, die in der BRD mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) und ihrem Präsidenten Hans Henning Atrott sowie dem Chirurgen Julius Hackethal verbunden ist. Es geht hier um freiwillige „Euthanasie“ kranker und alter Menschen. Doch weit mehr als die Hälfte des Buches ist dem Thema der nicht freiwilligen „Euthanasie“ gewidmet. Ernst Klee geht es um das Gemeinsame dieser Arten von „Euthanasie“, „um das Menschenbild, das Vertreter der neuen ,Euthanasie‘-Bewegung vermitteln wollen“, mit dem Ziel der „Abwehr des ständigen Versuchs, zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheiden zu wollen, Brauchbare und Unbrauchbare schon im Mutterleib zu selektieren“. Gelingt dies nicht, so Klee, „wird die Nazi- Eugenik, die auf staatlichem Zwang beruhte, von einer subtileren Eugenik abgelöst“.

Klee kritisiert die modernen Euthanasie-Bestrebungen vor allem in folgenden Punken: (1) Sterbehilfe- Gesellschaften wie die DGHS beschränken sich auf Ratschläge für „einfaches“ Sterben, ohne die sozialen Bedingungen des Sterbewunsches zu bedenken und ihnen entgegenzuwirken. „Ihr Ziel ist der Tod, möglichst rasch und schmerzlos.“ (2) Bei der Behandlung unheilbar Kranker dürfen keine Wirtschaftlichkeitsgebote eingeführt werden. Dies lenkt sonst „die Diskussion in jene Richtung, die Menschen Kosten-Nutzen-Analysen unterwirft — und verwirft“. (3) Wenn die „Heiligkeit des Lebens“ nicht unantastbar ist, „droht (...) behinderten Menschen Gefahr, daß ihr Leben verhindert oder getötet werden soll“. (4) Aus dem Recht, ein behindertes Kind abzutreiben oder zu töten, könnte eine Pflicht werden. „Könnte der Staat einmal auf die Idee kommen, genetisch Unerwünschte spätestens im Mutterleib zwangsweise erfassen und beseitigen zu lassen?“ (5) Die „Euthanasie“-Befürworter vertreten alte, aus der NS-Zeit bekannte Thesen. Die Parallelen zum Nationalsozialismus werden deutlich in den Kriterien für die Auswahl der „Euthanasie“-Opfer, vor allem Personalität der (argumentativen) Verquickung von Tierschutz und „Euthanasie“ sowie unzulässigen Folgerungen aus Einzelfällen. „Die neuen Sterbehilfe-Befürworter entkommen der Sprache der Nazis oft nicht.“ (6) Bei der Befürwortung von „Euthanasie“ an nur einem Beispiel würde ein Damm brechen: „Wenn einmal die Schwächsten preisgegeben werden, werden bald andere preisgegeben.“ (7) Insbesondere die DGHS liebt den Medienrummel und verschafft sich am Leid anderer finanzielle Vorteile.

Klee nimmt das Wort von den Medien als veröffentlichter Meinung ernst. Er sucht nicht zu überzeugen, sondern zu überreden. Dies zeigt sich insbesondere in seinem Begriffswirrwarr, den inhaltlichen Widersprüchen und seinem Beharren darauf, den ernstzunehmenden Fragen konsequent aus dem Weg zu gehen. Hierfür einige Beispiele: Es kann begrifflich unterschieden werden zwischen unfreiwilliger, nicht freiwilliger und freiwilliger „Euthanasie“. Unfreiwillige „Euthanasie“ liegt wor, wenn die „Euthanasie“-Opfer zustimmungsfähig gewesen wären, aber entweder ihre Zustimmung verweigert haben oder vor der Tötung nicht gefragt worden sind. Sie ist ein Fall von Mord. Nicht freiwillige „Euthanasie“ ist nur bei nicht zustimmungsfähigen Opfern möglich. Zur freiwilligen „Euthanasie“ schließlich müssen die Opfer ihre Zustimmung gegeben haben; sie sind, was die bisherige Praxis in der BRD angeht, in der Regel auch die Täter. Klee macht sich nicht die Mühe, diese Begriffe zu unterscheiden; und da sich bei jeder Form der „Euthanasie“ andere Fragen ergeben, kann Klee die jeweiligen Probleme nicht in den Blick bekommen. Die Zustimmungsfähigkeit beispielsweise ergibt wichtige Unterschiede. Embryonen, Föten, Neugeborene und Komatöse etwa sind nicht zustimmungsfähig und können sich nicht selbst töten. Darf ein anderer hier eine Entscheidung fällen? Und wenn ja: auf welcher Grundlage, nach welchen Kriterien? Anders bei der freiwilligen „Euthanasie“. Selbst Klee stimmt passiver freiwilliger „Euthanasie“ zu: „Kein Arzt ist berechtigt, gegen den Willen des Betroffenen Leben zu verlängern. Die ,passive Euthanasie‘, d.h. die Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen, ist heute nicht mehr umstritten.“ Gilt dies auch für den Fall, daß das „Euthanasie“-Opfer seinen Willen nicht (mehr) äußern kann? Dann sind wir wieder auf die Probleme der nicht freiwilligen „Euthanasie“ verwiesen.

Statt zu argumentieren, gerät Klee ins religiöse Schwärmen: „Leid, Leiden und Mitleiden führen in die Tiefe menschlichen Lebens, machen schöpferische Kräfte frei“, wie er am Beispiel Beethovens zum Nutzen der Allgemeinheit deutlich zu machen sucht. Damit sind wir bei Beispielen für seine Widersprüche. Einerseits: „Hätte Beethoven in seiner Verzweiflung eine der heute verbreiteten Freitodbroschüren zur Hand gehabt und sich selbst ,erlöst‘, hätte die Menschheit seine schönsten Werke niemals hören können.“ Die „neue Nützlichkeits-Philosophie“ ist aber andererseits abzulehnen. Was nützlich ist und was nicht, wann Nutzen berücksichtigt wird und wann nicht, wessen Nutzen berücksichtigt wird und wessen nicht, bestimmt Klee; tun dies andere, ist es verwerflich oder unmöglich. Ähnlich bei der Frage nach den Interessen oder Bedürfnissen der „Euthanasie“-Opfer.

Singers Tabubruch: Nicht die Praxis der „Euthanasie“, sondern das Bekenntnis dazu

Als positives Beispiel für Sterbehilfe verweist Klee auf das „St. Christopher's Hospice“ in einem Londoner Vorort. Hier soll das Sterben erleichtert werden: „Im Hospiz steht nicht die Krankheitsbekämpfung im Mittelpunkt, sondern die Bedürfnisse des Sterbenden“ (Hervorhebung von uns). Die echten Bedürfnisse? Die wahren, rationalen? Die geäußerten? Klee kennt die Bedürfnisse. Sprechen Atrott oder Singer von Bedürfnissen oder Interessen, ist dies bestenfalls vorgeschoben, weil die faschistische Tötungspraxis auch so legitimiert worden ist (s. Catel).

In die neue „Euthanasie“-Debatte einzugreifen, hält Oliver Tolmein für ein fragwürdiges Unterfangen, da sie Ängste schüre und neuen Ressentiments Bahn breche. „Geschätztes Leben“, so Tolmein, sei daher der „Versuch, im Zusammenhang der Debatte gegen die Debatte zu schreiben“. Gezeigt werden soll, daß die Singer-Debatte im Kontext einer bereits seit längerem zu beobachtenden und nun erneut forcierten „Euthanasie“-Kampagne zu begreifen sei, die Argumente der „Euthanasie“-Befürworter sollen kritisch analysiert, die politischen wie philosophischen Voraussetzungen ihres Denkens zurückgewiesen werden. So steht es im Vorwort. Leider geschieht nur ersteres. Wenn Singer mit seinen Vortragstiteln bzw. seinen GastgeberInnen in Deutschland ein Tabu gebrochen hat, dann war dies zwar ein der nazistischen Erfahrung geschuldetes Tabu, betraf jedoch nicht die „Euthanasie“-Praxis selbst, sondern das offene Bekenntnis dazu. Tolmeins im ersten Kapitel seines Buches beschriebene Entwicklung der „Euthanasie“-Diskussion und -Praxis in den achtziger Jahren und die von seiner Co-Autorin Theresia Degener analysierte Realität bundesrepublikanischer Rechtsprechung („Tödliches Mitleid schützt vor Strafe“) belegen das eindrucksvoll. Tolmeins Beispiele sind, wie zuvor schon bei Klee, vor allem die DGHS-, aber auch die „Einbecker Empfehlungen“. Aber wie sieht seine Auseinandersetzung mit den politischen wie philosophischen Voraussetzungen der neuen „Euthanasie“-Debatte aus? In etwa so: „Machte sich ein Staatsanwalt die Mühe, diese 114 Seiten plus die eine Seite des Nachworts zu lesen, müßte er sich anschließend an den Schreibtisch setzen, um eine Anklageschrift wegen Volksverhetzung und Anstiftung zum Totschlag zu verfassen.“ Eine Rolle, in die Tolmein sich anschließend selbst begibt, wenn er Singers Position zur „Euthanasie“ durch ein „paar charakteristische Zitate“ vorzustellen vorgibt. Eine knappe Zusammenfassung der Position nämlich sei „widerlich“, weil man sich so Singers „ums Leben nicht besorgtes Kalkül (...), wenn auch nur durch selbstgewählte Formulierungen, ein Stück weit zu eigen“ mache. Heraus kommt die inzwischen übliche Auflistung der inzwischen ebenso weithin bekannten „Stellen“ aus der Praktischen Ethik. Schließlich schlüpft der Autor in die Rolle des Psychologen und räsoniert über die „Ursachen der psychischen Verkümmerung“ Singers und dessen „individueller intellektueller Deformation“. Singers Argumente sind für ihn subjektiv nur der Ausdruck seiner Angst, beim Anblick Behinderter „mit den Möglichkeiten des eigenen Lebens konfrontiert zu werden“. Einer Angst, die Singer eine Distanz zu behinderten Menschen halten lasse, die notfalls eben durch Liquidation herbeigeführt werden müsse. Objektiv aber dienten Singers Argumente der Legitimation wie Festsetzung der Leistungs- und Glücksnormen der Industriegesellschaft. Denn nur in der Wahrnehmung solcher Menschen, die diese Normen bereits verinnerlicht hätten, sei der Tod für geschädigte Kinder besser als ihr Leben. Ergänzt wird Tolmeins „Diagnose“ durch eine Handvoll eingestreuter Zitate aus Horkheimer/ Adornos Dialektik der Aufklärung, die belegen sollen, daß Singers Argumente wahlweise positivistisch oder eindimensional seien und sich im übrigen eines instrumentalistischen Vernunftbegriffs bedienten. Damit meint er auch gleich den Utilitarismus, in dessen Tradition Singer steht, miterledigt zu haben. Differenzierungen sind offenbar nicht nötig, denn auch in den „Euthanasie“-Aktionen der Nazis erkennt Tolmein schließlich „einen zum äußersten getriebenen Utilitarismus“.

Die Unterscheidung von „Personen“ und „Nicht-Personen“

Besonders deutlich werden die Probleme einer solchen „Zurückweisung“ der philosophischen Voraussetzungen der „Euthanasie“-Debatte an Tolmeins Auseinandersetzung mit Singers Unterscheidung zwischen Personen und Nicht-Personen, einem der zentralen Argumente Singers für das Tötungsverbot. Singer und mit ihm eine große Anzahl weiterer AutorInnen halten diese Unterscheidung unter ethischen Gesichtspunkten für wesentlicher als die üblicherweise in dieser Diskussion gemachten, also etwa die Unterscheidung zwischen Mitgliedern der menschlichen und den Mitgliedern anderer Gattungen oder die Unterscheidung zwischen menschlichen Wesen, die sich noch im Mutterleib befinden, und solchen, die bereits geboren wurden. Für den Präferenz- Utilitarimus Singers ist das Töten einer Person (die über ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein verfügt, das Zeitbewußtsein einschließt), in der Regel schlimmer als das Töten eines anderen Wesens, weil ein Wesen, das sich nicht mit einer Zukunft sieht, keine frustrierbaren Wünsche hinsichtlich seiner eigenen zukünftigen Existenz haben kann.

Ein solcher Begriff von Personalität läßt die Möglichkeit menschlicher Nicht-Personen ebenso zu wie die Möglichkeit nicht-menschlicher Personen (bestimmte Affenarten, Schweine etc.) und ist Singers Kriterium dafür, welche Wesen ein „Recht auf Leben“ haben. Embryonen, Föten, aber auch Neugeborene sind Singers Argumenten zufolge keine Personen und haben entsprechend kein „Recht auf Leben“.

Nun kann man Singers Unterscheidung mit gutem Grund für gefährlich und ihre Folgen für diskriminierend halten. Aber da sie — vor allem in der angelsächsischen moralphilosophischen Diskussion — weit verbreitet ist, wird man ihr mit Argumenten begegnen müssen. Gerade das aber tut Tolmein nicht. Er handelt das Problem, von dem er eben noch behauptet hatte, daß es eines der philosophisch zentralen sein möge, in einer Anmerkung ab und schreibt: „Sicher ist jedenfalls, daß die Unterscheidung von Personen und Nicht

Personen ausschließlich das Ziel hat, letztere problemlos der Vernichtung preisgeben zu können. Zu kritisieren ist also der Erkenntniswille. Zur Klärung der Frage, was Mensch-Sein heißt, trägt die Personalitätstheorie nichts bei“ (Hervorhebung von uns). Darüber, was es mit diesem „Erkenntniswillen“ auf sich habe, sagt er leider nichts.

Der Tabu-Konsens der Linken

Die Beschäftigung mit Tolmeins Argumenten gegen die politischen und philosophischen Implikationen der neuen „Euthanasie“-Debatte würde kaum lohnen, wäre sie nicht nachgerade exemplarisch für die Hilflosigkeit vor allem der Linken im Umgang mit diesem Thema. Hier gibt es offenbar einen durch Denk- und Frageverbote eingezäunten Konsens, der bei Tolmein etwa dann zum Tragen kommt, wenn er bereits im Vorwort seines Buches die Unterscheidung zwischen freiwilliger und nicht freiwilliger „Euthanasie“ mit der Behauptung vom Tisch wischt, in beiden Fällen ginge es um den „Willen zur Selektion“, und (ebenfalls schon im Vorwort) die Entscheidung trifft, die Abtreibungsproblematik auszuklammern. Tolmein begründet diese Entscheidung damit, daß es bei der Abtreibung nicht um „planmäßig vollzogene Massenvernichtung“ und in der Regel nicht um die Scheidung von „lebenswertem“ von „lebensunwertem“ Leben gehe. Es müsse vor allem gegen das Menschenbild der „Euthanasie“-Befürworter argumentiert und im übrigen zwischen der Entscheidung der einzelnen Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch und dem bevölkerungspolitischen Kalkül der Propagandisten von humangenetischer Beratung und pränataler Diagnose unterschieden werden. Das gelte prinizipiell auch im Falle der Abtreibung aus eugenischer Indikation. Allerdings gibt auch Tolmein zu, „daß der selektiven Abtreibung und der Nichtbehandlung behinderter Neugeborener identische Vorstellungen über den ,Wert‘ bzw. angeblichen ,Unwert‘ des Lebens behinderter Menschen zugrunde liegen“ (bezeichnenderweise wieder eine Anmerkung).

Tolmein hat natürlich recht damit, zu behaupten, die Verquickung der Abtreibungs- mit der „Euthanasie“-problematik habe vor allem propagandistischen Wert. Nicht umsonst versucht Singer seinen Überlegungen zur „Euthanasie“ an (schwerst-) behinderten Neugeborenen dadurch Plausibilität zu verschaffen, daß er auf die Praxis der humangenetischen Beratung, pränatalen Diagnose und selektiven Abtreibung verweist und darauf, daß in diesen Fällen die üblicherweise vertretene Vorstellung vom gleichen (oder unendlichen) Wert jeden menschlichen Wesens bereits aufgegeben sei. Aber diese Verquickung erschöpft sich nicht in ihrem propagandistischen Wert. Zugrunde liegen auch ein reales moralphilosophisches und ein politisches Problem: Handelt es sich denn nicht tatsächlich in beiden Fällen um Tötungshandlungen? Und also auch in beiden Fällen um die Frage nach der Begründung und der Reichweite des Tötungsverbotes? Und handelt es sich denn nicht tatsächlich im Falle selektiver Abtreibung, wie in den anderen von Singer genannten Beispielen, um faktische Entscheidungen über den Wert verschiedener Leben? Der vorschnelle Verweis auf individuelle Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung hilft hier ebenso wenig weiter, appellieren doch gerade auch die BefürworterInnen von Pränataldiagnose und „Euthanasie“ an diese Instanz.

In Bruns u.a. sind eine Reihe von (zum Teil bereits früher veröffentlichten) Beiträgen versammelt, die, wie der Untertitel schon verrät, gegen die moderne „Euthanasie“-Debatte geschrieben sind. Das Heft soll den Widerstand gegen die Veranstaltungen mit Peter Singer dokumentieren. „Es soll aber auch der Diskussion um gemeinsame Klarheit dienen, welche Auseinandersetzungen künftig noch untereinander und gegen die WegbereiterInnen einer ,neuen‘ Eugenik und ,Euthanasie‘ geführt werden müssen.“ Udo Sierck schreibt in zwei Beiträgen über Hackethal und die Lebenshilfe e.V., Franz Chistoph und Gabriele Goettle zu Singers „Euthanasie“-Thesen, Hans-Jürgen Jonas zu Singers Thesen zur Gen- und Reproduktionstechnik. Ursula Auriens Beitrag schlägt einen in diesem Zusammenhang wichtigen Bogen zur pränatalen Diagnostik/Humangenetik; Ludger Weß nennt Binding/Hoche die „Vorläufer (...) der neuen ,Euthanasie‘-Debatte“; eine Gemischte Gruppe gegen Gen- und Reproduktionstechnik Rhein/Main findet gegen Singer zu einer eigenen Position; eine Chronologie der Ereignisse ab dem Frühjahr 1989 rundet das Heft ab. Gut an dem Heft ist der Versuch der Zusammenschau mehrerer disparater Themen, die doch in engem Zusammenhang stehen: Eugenik, „Euthanasie“, Humangenetik, Gen- und Reproduktionstechnik. Dieser jedoch kann in so kurzen Beiträgen kaum gelingen; eine Kritik schon wegen der notwendigen Verkürzungen in den Beiträgen wäre zu einfach. Zwei Hinweise auf die oberflächliche Herangehensweise der HerausgeberInnen scheinen jedoch notwendig. In ihrem Vorwort setzen sie ,Mensch‘ und ,Person‘ gleich. Das führt zu Begriffs- und folglich zur Diskussionskonfusion (auch in den „eigenen Reihen“). Unsinnig wird es, wenn behauptet wird, daß „Zweifel am Lebensrecht bestimmter Personen bereits auf breite Resonanz (...) stoßen.“ Zudem scheint ihnen eine eigene Moral vorzuschweben, wenn sie das neue Sterilisationsgesetz wegen des „Abbau(s) moralisch-ethischer Bedenken“ kritisieren. Aber welche?

Der von Till Bastian herausgebene Band Denken-Schreiben-Töten vereinigt eine Reihe sehr unterschiedlicher Texte zur neuen „Euthanasie“-Diskussion und zur Philosophie Singers. Die Autoren, zu denen Klaus Dörner ebenso zählt wie Robert Spaemann oder Reinhard Löw, bemühen sich um eine Kritik der utilitaristischen Ethik Singers, dessen Argumente sie (wie Spaemann im Vorwort) für „äußerst schwach“ halten und „eindrucksvoll nur für Menschen, die kein rationales Argument akzeptieren, das in seiner Konsequenz auf einen Begriff wie den der Heiligkeit führen könnte.“ Schweitzers Ethik einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ scheint ihnen so als das beste Mittel gegen die „Praktische Ethik“. Dörner stellt Singers Thesen in seinem (in anderer Fassung bereits im 'Spiegel‘ erschienenen) Beitrag in den Kontext der von ihm sogenannten „Endlösung der sozialen Frage“. Rost hält die gegenwärtige „Euthanasie“-Diskussion für einen Ausdruck einer „Krise der Gesellschaft“, die auch eine „Krise der Medizin“ impliziere. „Die fortschreitende Technisierung mit ihren grundlegenden Veränderungen des Arbeitslebens läßt die Realisierung einer ,schönen neuen Welt‘ näherrücken, in der Krankheit, Behinderung und oft auch der Tod als beherrschbare oder vermeidbare ,Restrisiken‘ des Lebens erscheinen.“ Der Band enthält darüber hinaus einen Aufsatz von Löw über „Philosophische Aspekte der Behindertenproblematik“, Fengler schreibt über „Ordnung, Pflicht und Tötungsbereitschaft“, Begemann über „Medizin im Widerspruch“. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Dokumentation von Zeitungsartikeln aus der 'Zeit‘ und der taz.

Das Recht auf Abtreibung und das auf „Euthanasie“

Franz Christoph, Initiator und Mitglied der Krüppelbewegung, setzt sich mit seinem Buch gegen den, wie er meint, „tödlichen Zeitgeist“ zur Wehr. Das Buch, weniger als Argumentationsbeitrag denn als persönliche Stellungnahme gedacht und formuliert, hat entsprechend seine stärkeren Seiten in den letzten Teilen, in denen Christoph kritisiert, wie mit dem Schreckbild „Behinderung“ (auch linke) Politik gemacht wird. Und entsprechend schwach sind die ersten Teile über Abtreibung, Sterbehilfe und Singer; denn obwohl Christoph hier versucht zu argumentieren, gerät er doch eher ins (Alltags-) Psychologisieren, womit sich beinahe jede Behauptung belegen läßt. Die Vorwürfe Christophs gegen die „Euthanasie“-Befürworter sind dieselben, wie sie bei Klee und den anderen AutorInnen formuliert werden. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich Christoph jedoch. Während alle anderen Autoren versuchen, ein Recht auf Abtreibung und ihre Ablehnung der „Euthanasie“ miteinander zu verbinden — und so in Widersprüche geraten — zieht Christoph die Konsequenz und lehnt Abtreibung zunächst ab. Allerdings ist ihm selbst nicht so recht wohl dabei, kann er doch zu den hier relevanten Unterschieden zwischen geborenem und ungeborenem Leben nicht mehr sagen, als daß es sie gibt, „um Mißverständnisse zu vermeiden“.

Wie kann Abtreibung legitimiert und gleichzeitig Kindermord abgelehnt werden? (Sieht man einmal von dem Problem ab, zwischen dem moralischen Status von Embryo-Föten und dem von Neugeborenen zu unterscheiden, gibt es natürlich gute Gründe gegen ein Verbot der Abtreibung und gegen eine Freigabe des Infantizids.) In welchem Zusammenhang stehen „Euthanasie“-Debatte und Gen- und Reproduktionstechnolgie? Stehen beide im Kontext der „Endlösung der sozialen Frage“ (Dörner) und damit in Faschismusnähe? Gibt es andere Verbindungslinien (abgesehen von den nur scheinbaren, die zum Beispiel Klee angibt)? Wo liegen die Unterschiede zwischen der heutigen „Euthanasie“-Debatte und der der zwanziger Jahre, die nicht nur mit dem Namen Binding und Hoche verknüpft ist? Und zuletzt: Welche praktisch-politischen Konsequenzen hat eine Kritik der „Euthanasie“-Debatte? Wer sich Antworten auf diese Fragen erhofft hatte, wird von der Lektüre vorstehender Bücher enttäuscht sein. Sie spiegeln viel eher die Hilflosigkeit und Verwirrung (gerade von Linken) im Umgang mit den Themen „Euthanasie“, Abtreibung und Neo-Eugenik wieder.

Ernst Klee: Durch Zyankali erlöst. Sterbehilfe und Euthanasie heute. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M., 162 S., br., 12.80DM

Oliver Tolmein: Geschätztes Leben. Die neue „Euthanasie“-Debatte. Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 231 S., br., 28 DM

Theo Bruns u.a. (Hrsg.): Tödliche Ethik. Beiträge gegen Eugenik und „Euthanasie“. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg, 91 S., br., 12.80 DM

Till Bastian (Hrsg.) : Denken — Schreiben — Töten. Zur neuen „Euthanasie“-Diskussion und zur Philosophie Peter Singers. Hirtzel, Weiss. Verlagsges., Stuttgart, 142S., br., 29 DM

Christoph Franz: Tödlicher Zeitgeist. Notwehr gegen Euthanasie. Kiepenheur & Witsch, Köln, 141S., br., 16.80 DM