KOMMENTARE: Schwebezustand
■ Den Führern der Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina fällt große Verantwortung zu
Noch ist die Explosion in Bosnien-Herzegowina nicht erfolgt. Noch ist es möglich, den drohenden Krieg in dem in Europa einzigartigen Vielvölkerstaat, dem Jugoslawien en miniature, dem Staat der Muslimanen, Serben und Kroaten abzuwenden. Doch nur ein Schußwechsel durchgeknallter Jugendlicher kann einen Kampf von „Haustür zu Haustür“ ( Präsident Izetbegovic) auslösen, der alles bisher im jugoslawischen Krieg Geschehene in den Schatten stellt. Der Friede hängt jetzt vor allem davon ab, ob die politischen Führungen der Volksgruppen noch ihren Rest von Vernunft in Politik umsetzen können. Und auch, wie und wann UNO und Europäer zur politischen Intervention in der Lage sind.
Eine der einschneidenden Entwicklungen der vergangenen Wochen bestand darin, daß das Gesetz des Handelns zunehmend von der (ländlichen) Basis der drei Nationalparteien bestimmt wird. Waren noch im Vorjahr die nationalistischen und religiösen Eliten und politischen Führer der drei Volksgruppen die treibenden Kräfte der Auseinandersetzungen, so hat sich das Verhältnis nun umgekehrt. Das flache Land beginnt die Stadt zu beherrschen. Symptomatisch dafür ist, daß nicht nur dem kroatischen Führer Klujic im eigenen Lager die Zügel entglitten. Auch der serbische Repräsentant Karadzic kann sich kaum noch gegen die eigenen Radikalen durchsetzen. Allein die muslimanische Spitze, die ja auch Staat, Bürokratie und die elektronischen Massenmedien beherrscht, scheint in den eigenen Reihen noch über genügend Autorität zu verfügen. Doch auch ihre liberale und laizistische, auf Europa ausgerichtete Politik ist nicht mehr unbestritten, seit Extremisten unter den Islamisten offen die islamische Republik fordern.
Zu diesem Autoritätsverlust beigetragen hat die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit. Ursprünglich wollten Muslimanen und Kroaten gegen den Widerstand der Serben mit dieser Volksabstimmung die diplomatische Anerkennung der Republik erreichen. Doch angesichts der Intervention der UNO im serbisch-kroatischen Konflikt und der zögerlichen Haltung der USA, einen weiteren Zerfall Restjugoslawiens zu akzeptieren, sind die Chancen dafür gesunken. Nicht zuletzt auch, weil die EG und vor allem Deutschland ebenfalls zögerlich wurden. Das so entstandene politische Vakuum muß aber gefüllt werden. Sowohl UNO wie EG müssen daher einen energischen Versuch machen, die Exponenten der verfeindeten Volksgruppen zu einer für alle tragbaren Übereinkunft zu zwingen. Erich Rathfelder
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