Bosnien gleicht einem Pulverfaß

■ In Sarajevo patrouillieren serbische und moslemische Kräfte gemeinsam/ Kämpfe an der Grenze zu Kroatien

Sarajevo/Berlin (taz/afp/ap/dpa) — Bosnien-Herzegowina steht am Rand des Bürgerkriegs. In Sarajevo, der Hauptstadt der von Moslems, Serben und Kroaten bewohnten ex- jugoslawischen Republik, sind die Barrikaden zwar wieder abgebaut, doch es herrscht eine hochexplosive Stimmung. Am Dienstag abend erklärte Präsident Alija Izetbegović, der der bosnischen Volksgruppe angehört, serbische Freischärler befänden sich bereits vier bis fünf Kilometer vor der Stadt. In einer Fernsehansprache rief er die Moslems, die im Besitz von Waffen seien, auf, sich „bereitzuhalten“. Bei den anrückenden Serben handele es sich um Milizen des ultranationalistischen Serbenführers Vojislav Seselj und Freischärler der „Serbischen Garde“. Die ganze Stadt wurde auf Anordnung der Behörden verdunkelt.

Der Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), Radovan Karadzić, bestätigte — ebenfalls im Fernsehen — die Ankunft bewaffneter Serben. „Wir sind in einen Religionskrieg eingetreten“, sagte er und erklärte, er habe die Serben zum Marsch auf die Hauptstadt aufgefordert, nachdem im vorwiegend von Serben bewohnten Vorort Pale seine Landsleute von Moslems angegriffen worden seien. Die Fernsehansagerin weinte vor Erschütterung und rief die Führer von Serben und Moslems auf, vor laufenden Kameras ihre Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Unterdessen hatten sich bereits Hunderte bewaffneter Moslems an der Stadtgrenze zur Verteidigung postiert. Ein Kommandant moslemischer Verbände, der seinen Namen lediglich mit Paja angab, erklärte, zur Verteidigung Sarajevos stünden zwei- bis dreitausend Kämpfer in den Bergwäldern um die Stadt, Gewehr bei Fuß. Seine Männer trugen Lederjacken sowie grüne und blaue Käppis und waren mit Kalaschnikows ausgerüstet.

Angesichts der extrem gespannten Situation — im Zentrum Sarajevos wurde am Dienstag geschossen, und in der Altstadt waren ein Dutzend schwere Detonationen zu vernehmen — einigten sich am Mittwoch früh die Führer der Moslems und Serben auf Vermittlung des örtlichen Armeekommandanten General Kukanjac hin auf die Aufstellung gemeinsamer Patrouillen von Soldaten der serbisch beherrschten Armee und Angehörigen der von Moslems dominierten Polizei, die schließlich den Abbau der Barrikaden durchsetzten. Izetbegović und Karadzić forderten alle „bewaffneten Zivilisten“ auf, sich von den Straßen zurückzuziehen.

Die Situation hatte sich in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas am späten Montag abend zugespitzt, als Präsident Izetbegović offenbar unter dem Druck seiner eigenen Partei die Unabhängigkeit der Republik proklamierte, für die sich am Wochenende 63 Prozent der stimmberechtigten Bürger ausgesprochen hatten. Kurz zuvor noch hatte er mit dem Versprechen, die Unabhängigkeitserklärung auszusetzen, den Abbau der von Serben errichteten Barrikaden erreicht, die am Dienstag dann an zahlreichen Punkten Sarajevos wieder errichtet wurden.

Während in der Hauptstadt die Lage am Mittwoch nachmittag einigermaßen unter Kontrolle war, errichteten bewaffnete Serben in vielen Teilen der Republik Straßensperren. In Bosanski Brod, im Norden der Republik, direkt an der Grenze zu Kroatien, kam es zu Zusammenstößen zwischen serbischen Territorialverbänden und bosnischer Polizei. Nach Angaben von Radio Sarajevo wurden mehrere Menschen getötet. „Was hier passiert“, sagte der Hörfunkkorrespondent der Stadt, in der die kroatische und die serbische Volksgruppe etwa gleich stark sind, „gleicht einem wirklichen Bürgerkrieg“. Rund 80 Granaten seien auf den Ort niedergegangen. Serbische Verbände hätten die Polizei aus Teilen der Stadt vertrieben, den bosnischen Teil der Brücke über den Grenzfluß Save besetzt und mehrfach auf die kroatische Seite hinübergefeuert. Auch in Doboj (40 Prozent Serben, 39 Prozent Moslems), 120 Kilometer nördlich von Sarajevo, wurde geschossen. In Cemerno im Südosten der Republik, einer überwiegend von Serben bewohnten Region, wurden zwei junge Moslems erschossen aufgefunden. Ersten Ermittlungen zufolge seien die beiden mit Waffen der jugoslawischen Armee erschossen worden, teilte ein Polizeisprecher mit.

An den kroatischen Fronten wurde unterdessen eine Woche vor dem Eintreffen der ersten UN-Friedenstruppen der Waffenstillstand mehrfach verletzt. Die jugoslawische Armee griff nach Angaben des kroatischen Fernsehens mehrere Orte in der Nähe der Adriastadt Sibenik und deren Nachbarstadt Skradin an. Die Armee beschoß zudem der Agentur Hina zufolge zwei Orte bei Sisak, etwa 60 Kilometer südöstlich von Zagreb, mit Artillerie. Militärflugzeuge hätten die Adriastadt Dubrovnik überflogen, hieß es weiter. thos