Vermehrungszeiten von Karnickeln

■ Ein Interview mit Klaus Wagenbach

taz: Sie haben 1980 gesagt, daß die drei Grundfesten...

Klaus Wagenbach: ...das ist noch immer so!

... Ihres Verlages Anarchie, Hedonismus und Geschichtsbewußtsein wären. Der Hedonismus ist unverkennbar, das Geschichtsbewußtsein auch — was ist aus der Anarchie geworden? Wo ist das anarchistisch wühlende Karnickel? Es hat sich verkrochen?

Gute Frage! Die Vermehrungszeiten von Karnickeln sind außerordentlich unterschiedlich! Sie rammeln im Frühjahr, und dann ist wieder tote Hose... Natürlich verändert sich ein Verlag; er muß reagieren. Die siebziger Jahre im Verlag haben sich von den Achtzigern dadurch unterschieden, daß in den siebziger Jahren viele Autoren das Haus regelrecht besetzt hielten. Wenn ich morgens aus dem Schlafzimmer kam, bin ich über zwei Genossen gestolpert, die da im Schlafsack lagen und fragten: »Was machst du denn hier?«, und ich sagte: »Na, ich wohne hier.« Und der Fotokopierer war immer besetzt, weil grade die Revolution ausgeschrien wurde, und mein Auto war weg... das habe ich ja im Schwarzen Brett beschrieben.

Eine Konsequenz war, daß der Verlag überschüttet wurde mit Projekten, mit Anregungen, mit Buchvorstellungen. Die achtziger Jahre waren geprägt davon, daß solche Vorschläge nicht mehr auf den Verlagstisch kamen, Genossen Lehrer wurden oder keine Linke mehr. Mit dem Rückgang der Studentenbewegung, mit der Domestizierung der politischen Ideen kam natürlich ein Verlag wie unserer in eine schwierige Lage. Der Verlag mußte unerhört mehr anstiften.

In den siebziger Jahren war es eher ein Verlag der linken Bewegung; in den Achtzigern versuchte er eine Bewegung anzustiften. Wenn so etwas wie 1989 passiert, und Barbara Sichtermann, unsere intelligenteste Feministin, zu einem sehr teuren Buch über Marx angestiftet wird — dann sagt die DDR-Bevölkerung »Bei uns nicht!« und kauft keine zehn Exemplare. Oder einen Mann wie Lothar Baier anzustiften, darüber nachzudenken, warum wir so ein eiliges Volk sind, oder die Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek — das sind alles Anstiftungsbücher. Ich muß heute die Gesellschaft betrachten, wie sie sich bewegt und sehen, was fällt mir dazu ein. Wen kann ich anstiften, etwas dazu zu sagen. Mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Die Arbeit im Verlag ist unerhört viel schwieriger geworden; wir müssen uns Listen einfallen lassen.

Sie haben in den sechziger, siebziger Jahren mit junger deutscher Literatur angefangen. Diese Komponente Ihres Programms ist weit zurückgedrängt. Warum?

Wir bekommen 800 bis 1.200 Manuskripte im Jahr, wie jeder Verlag, nur die Qualität der neuen deutschen Literatur liegt nicht so auf der Hand, wie sie in den Sechzigern, Siebzigern auf der Hand lag. Die eigentliche Versauung — ich übertreibe — des ästhetischen Anspruchs hatte bereits in den siebziger Jahren begonnen.

Wodurch?

Einmal durch uns, durch die Linke. Wenn man lange genug sagt, die bürgerliche Literatur ist Scheiße, dann hat das irgendwann auch Wirkung. Die zweite Ursache war die sogenannte Erfahrungsliteratur, eine narzißtische Literatur von isoliert Betroffenen: Die Einarmigen lesen nur noch die Einarmigen, die Einäugigen nur noch die Einäugigen... Jeder beschäftigt sich mit dem eigenen Defekt und nicht mit den allgemeinen Interessen. Ursache war natürlich auch die Depolitisierung der siebziger Jahre, der verlorene Anspruch, andere zu erreichen. Und ästhetisch ist es dasselbe: Wenn ich das öffentliche Jaulen in den Mittelpunkt stelle, dann bleibt die ästhetische Frage erstmal außen vor. Und in dieser Situation sind wir immer noch. Ein Verlag ist da machtlos.

Welche Ansprüche stellen Sie an deutsche Literatur?

Es hat in der deutschen Literatur Perioden gegeben, etwa 1860/90, da war nichts! Dann kam diese höchst auregende Zeit 1910/14 — dann wieder war Schluß. Dann Brecht, Döblin... und danach wieder Leere. Dann die — heute — großen sechziger Jahre... Ein Verleger kann viele Bücher initiieren. Aber er kann natürlich keine Literatur initiieren. Mich bekümmert nach wie vor, daß das große Projekt, mit dem der Verlag angetreten ist, nämlich Ost-West-Literatur, innerhalb eines Jahres gescheitert ist, und zwar durch die DDR, wegen Biermann.

In den fünf neuen Bundesländern machen Sie ungeheure 0,8 Prozent Umsatz...

Inzwischen sind es ungeheure 2 Prozent!

Da der »östliche Markt« so eine große Enttäuschung darstellt — welche Erwartungen hatten Sie an die Bewohner dieses vielbeschworenen »Leselandes«, das so schlagartig zerfiel?

Meine Erwartung war natürlich nicht, daß eine Steigerung um 17, 18 Prozent einsetzt. Überraschend war, daß eine Zeitschrift wie der »Freibeuter«, zu DDR-Zeiten geschmuggelt und heiß umkämpft, die Wiedervereinigung »unbeschadet« überstanden hat, plus 20 neuen Lesern vielleicht. Das ist ein mir nicht erklärliches Phänomen. Wie staatsförmig ist ein intellektuelles Leben? Wo ist die höchste ästhetische Aufmerksamkeit hin, die in der DDR über viele Jahrzehnte trainiert wurde? Zum Beispiel die Aufmerksamkeit, im 'Neuen Deutschland‘ zu sehen, ob das Komma da oder dort sitzt. Das ist nicht nur eine inhaltliche, das ist eine höchst ästhetische Aufmerksamkeit. Wo ist das hin? [Hat es vielleicht nie gegeben, Legende! d. säzzer] Die besten klassischen Sonette entstanden in der DDR. Wo ist diese ästhetische Bedachtsamkeit geblieben?

Sie ist vorhanden, wird aber nicht mehr benötigt.

Ich nehme mal einen Turner, am Reck, der diese Muskeln entwickelt hat. Was macht er damit; das Reck braucht er nicht mehr. Aber die Muskeln sind ja noch da! Was macht er damit? Fährt er Auto? (lacht herzhaft)

Und wie kommt es, daß ein Autor wie Lothar Baier relativ viele Leser hat?

Weil er in sehr einfachem Sinn den DDR-Lesern die West-Mentalität erklärt; warum die Westler so verrückt sind... (herzliches Lachen)... und so irrsinnig eilig und so närrisch... Für diese Literatur der Erklärung besteht ein sehr großer Bedarf... Die Aufmerksamkeit in der Ex-DDR richtet sich auf existentielle Bedürfnisse. Deswegen sind sie alle schwarz angezogen, deswegen tanzen sie in den Kellern der Toleranzstraße — ähnlich wie im Paris von 1948. Vorgestern sagte mir jemand in Ost-Berlin, der auch schwarz gewandet war: »Ich muß nach Paris, ich kann hier nicht mehr leben — in Paris sagen alle Straßen JA!« Stilisiert, aber verständlich. Die Vereinigung findet im Augenblick in den Kellern Ost-Berlins statt — unter Unter den Linden.

Wie würden Sie das Verlagsprogramm für die neunziger Jahre charakterisieren?

Der Kapitalismus ist ja nun mutterseelenallein und der Auffassung, er habe gewonnen — was ich für einen großen Irrtum halte. Er weiß nicht so recht, mit wem er den Sieg feiern soll... Es ist kein Feind mehr da! Und dann gibt es Leute, die kommen mit altmodischen Geräten, Spiegel genannt, und sagen: »Guck mal, so siehst du aus im Moment.« Und das ist noch milde. Der Industriegesellschaft vorzuspielen, was auf sie wartet, ist eine Aufgabe. Die Grenzen aufzuzeigen; die Industriegesellschaft hat keine Zukunft, es sei denn eine mörderische. Amerika verbraucht 27 Prozent der Ressourcen bei 5 Prozent Bevölkerungsanteil in der Welt. Wir können nicht sagen, das interessiert uns nicht. Auch wir Deutschen verbrauchen mehr als uns zusteht. Wenn wir nicht darüber nachdenken, werden andere uns dazu zwingen. Die zweite Überlegung lautet: Wie kriegen wir wieder »eine Bourgeoisie« her? Woher kommt die Schicht, die über die Gesellschaft nachdenkt und sie weiterentwickelt und ihr die Gesänge schreibt, wenn der Klassenwiderspruch weggefallen ist? Wir brauchen eine Kultur. Es ist keine Gesellschaft, keine Politik vorstellbar, die ohne Kultur auskommt. Wer kein Gedicht zu lesen versteht, ist nicht sensibilisiert für politische Arbeit, für Abweichungen, Varianten, Zwischentöne. Eine Gesellschaft ohne Kultur ist keine Gesellschaft. Wenn der Konsum als Sinn einer Gesellschaft ausgegeben wird, dann will ich mit ihr nichts zu tun haben.

Interview: Anke Westphal

und Helmut Fensch

Das schwarze Brett. Lesebuch aus 25 Jahren Wagenbach, 1989, 5,80 DM

Barbara Sichtermann: Der tote Hund beißt. Karl Marx neu gelesen. WaT 184, 160 S., 16 DM

Lothar Baier: Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland, WaT 182, 128 S., 15 DM