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Pigalle, Lager-Symphonieorchester und Prügelorgien

■ Werner Borgsen und Klaus Volland haben eine Dokumentation zum Kriegsgefangenenlager Stalag Xb in Sandbostel vorgelegt

Man kann dort günstig Holz einkaufen, reiten und seltsamerweise „grüne Eier“ bekommen. Das „Gewerbegebiet Immenhain“ in der Nähe von Bremervörde ist ein stiller Ort im Moor mit friedlichem Namen, eine Straßenmeisterei hat dort ihr Lager, ein Militariahändler stapelt dort Uniformen. So friedlich ging es am „Immenhain“ nicht immer zu.

Ein unauffälliger Stein am Eingang weist darauf hin, daß hier zwischen 1939 und 1945 ein Kriegsgefangenenlager war. Aufmerksame entdecken unweit im Dörfchen Sandbostel einen gepflegten Friedhof, unter dessen geschorenem Rasen Massengräber liegen. Man kann Zahlen zwischen 4.000 und 50.000 Lager- Toten erfahren, wenn man sich umhört. Woher kommen diese unvorstellbaren Zahlen, wurden im „Stalag Xb“ in Sandbostel doch überwiegend Gefangene interniert oder verschoben — auf ca. 780 „Außenkommandos“?

„Ma petite Sandbostelloise .../ Sie hat die Reize einer Königin / Doch sie verteidigt ihre Unschuld / Denn sie hat mich ernstlich gewarnt / Herr Hitler hat es verboten / man darf sein entblößtes .../ niemals den Herren Kreigsgefangenen zeigen“

(Die „französische Lagerhymne“ von 1941)

1 bis 2 Millionen Menschen wurden durch das Lager geschleust, und so unterschiedliche ihre Herkunft, so verschieden war ihre Behandlung. Franzosen und Engländer hatten am wenigsten zu leiden, sie bekamen Päckchen vom Roten Kreuz, durften sports betreiben, es gab Theater und Musikgruppen, ein Symphonieorchester, eine Lagerzeitung und das „Pigalle“, eine Bar mit Jazz und Tanz. Länger anwesende Gefangene, die bei den umliegenden Bauern arbeiteten, knüpften teils innige Beziehungen zu ihren Arbeitgebern an.

Anders erging es den Russen, auf die die Genfer Konvention nicht angewendet wurde, den Italienern, den Polen und kurz vor Kriegsende tausenden von KZ- Insassen aus dem KZ Neuengamme, die hierher evakuiert worden waren: Hier tobte der rassistische Vernichtungswahn der Nazis ungehemmt, hier gab es grauenhafte hygienische Zustände, Prügelorgien, Folter, Morde, und besonders: Hunger.

Eine schreckliche Typhus-Epidemie dezimierte die entkräfteten Häftlinge kurz vor der Befreiung noch weiter. Es existiert ein kurzer Film von der Befreiung, den Engländer gedreht haben. Ein grauenvolles Dokument, Leichenberge, lebende Knochengerippe, riesige Augen in Totenschädeln. Das Stalag war kein SS- Lager. Es war ein Lager der Deutschen Wehrmacht.

Seit 15 Jahren setzen sich Klaus Volland und Werner Borgsen für die Aufdeckung der Lagergeschichte und ein angemessenens Erinnern ein. Jetzt haben sie eine dickleibige Dokumentation vorgelegt, die zum Ausführlichsten gehört, was bisher auf diesem Gebiet veröffentlicht wurde. Sie setzen sich vehement für ein Dokumentations-Center auf dem ehemaligen Lagergelände ein.

Doch die Gewalt der Verdrän

Bitte die Jazzkappelle

Die Jazz- und Tanzkapelle des Stalag

gungsarbeit ist kaum zu überschätzen. Inzwischen vermuten sie, daß die Fläche des Friedhof in Sandbostel nachträglich verkleinert und die Zahl der Einzelgräber bewußt reduziert wurde. Gut für die Optik und für die Statistik. Ganz in einer gewissen Tradition,

die dazu führte, daß 1956 ein großes russisches Mahnmal auf dem Friedhof abgerissen wurde. Die Opfer waren wieder Feinde — im Kalten Krieg. Burkhard Straßmann

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