Ein Nullsummenspiel

■ Streithähne am gedeckten Tisch — Ein Bericht vom Pariser Intellektuellenkongreß

Das ist das kleinste Sandwich, das ich je gegessen habe. Es hat Platz in meinem hohlen Zahn“, sagte der Münchner Filmemacher Peter Fleischmann beim Anblick der auf Silbertellern kredenzten Kaviarbrötchen in den heiligen Hallen des Quai d'Orsay. Dann trat Hanna Schygulla vor einen Gobelin im Stil Ludwigs XIV. und rezitierte eine Elegie von Rilke in französischer Übersetzung: „Denn das Schöne ist nichts/als des Schrecklichen Anfang.“ Nicht einmal Rilke schaffte es, die heillos zerstrittenen serbischen und kroatischen Intellektuellen wenigstens vorübergehend miteinander zu versöhnen — während der Dichterlesung setzten sie flüsternd ihren Disput fort.

„Kinder, vertragt's euch!“, sagte der Wiener Regisseur Axel Corti resignierend am Schluß des dreitägigen Colloquiums, zu dem das Fernsehprogramm La Sept, die Medienhandelskette Fnac und der Publizist Bernard-Henry Lévy Intellektuelle aus ganz Europa nach Paris eingeladen hatten: Die SchriftstellerInnen Danielle Sallenave, Julia Kristeva, Jorge Semprun, Andrej Szcypiorski, Alexander Kabakow, Michael Ignatieff, Rachid Mimouni, Peter Schneider und Peter Handke, die Philosophen Alain Finkielkraut und Fernando Savater, die Kinoregisseure Claude Lanzmann und Otar Iosseliani, die Historiker Edgar Morin, Adam Michnik und Bronislaw Geremek, den SPD-Abgeordneten Freimut Duve, 'Zeit‘-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, Gorbatschows ehemaligen Berater Alexander Jakowlew, den Präsidenten der europäischen Kommission Jacques Delors und andere mehr.

„Les tribus ou l'Europe“ (die Stämme oder Europa) lautete das unglücklich gewählte Motto der Konferenz, die besser „politische Kultur oder Barbarei“ geheißen hätte. Das Wort „Stämme“ klingt allzu paternalistisch und kolonial herablassend, und bis zum Schluß wurden die Eingeladenen den Eindruck nicht los, daß zwei Klassen von Europäern im Saal anwesend waren: auf der einen Seite die saturierten Westeuropäer aus dem exklusiven Club der EG, auf der anderen die schlecht erzogenen Hungerleider aus den Hinterländern Süd- und Osteuropa, die wie Asylbewerber aus der Dritten Welt an den gedeckten Tisch drängten und rücksichtslos von ihren Ellenbogen Gebrauch machten, um sich Platzvorteile zu verschaffen. Vergeblich beschwor Jorge Semprun den gemeinsamen Kampf der Dissidenten in Ost und West gegen Totalitarismus, für Menschenrechte und Demokratie und warnte vor einer Ausgrenzung orthodoxer Christen und Moslems aus dem europäischen Haus. Der Riß war nicht mehr zu kitten, und die Streithähne aus den miteinander verfeindeten jugoslawischen Republiken taten alles, um ihn noch zu vertiefen. Kroatische wie serbische Intellektuelle zogen sich in die Wagenburgen ihrer nationalen Identität zurück und schlugen mit Verbalinjurien aufeinander ein.

Besonnenere Stimmen wie die von Rada Ivekovic und Predrag Matvejevitch, die sich außerhalb ihrer Clans stellten, waren hoffnungslos in der Minderheit und wurden wie ein nüchterner Gast, der eine Kneipenschlägerei zu schlichten versucht, von allen Seiten attackiert. Die Veranstalter gossen Öl ins Feuer, indem sie auf dem Podiuim einen mediengerechten Schaukampf inszenierten, bei dem es nur vordergründig um Jugoslawien ging. Die Parteinahme für die eine oder andere Minderheit diente vielmehr der intellektuellen Profilierung im Streit darum, wer der Schönste im ganzen Land ist: Was Alain Finkielkraut gegenüber dem Fernsehstar Bernard-Henry Lévy an Sex-Appeal fehlte, machte er durch ein rhetorisch brillantes Plädoyer für das Aggressionsopfer Kroatien wieder wett, das im traditionell serbenfreundlichen Frankreich nur begrenzte Sympathien genießt. Dagegen wies Bernard-Henry Lévy zu Recht darauf hin, daß der Balkan-Nationalismus ein Nullsummenspiel ist, bei dem jede Volksgruppe eine andere Minderheit unterdrückt und daß die Erfüllung aller Autonomiewünsche ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil ein Nationalismus den anderen ausschließt; die Aufgabe der Intellektuellen bestehe nicht darin, Konflikte anzuheizen, sondern Hitzköpfe zur Vernunft zu bringen. In Wahrheit waren beide gar nicht so weit voneinander entfernt: Weder rechtfertigte Alain Finkielkraut den kroatischen Chauvinismus, noch verteidigte Bernard- Henry Lévy die serbische Aggression. Daß es auch anders geht, führten Polen, Litauer und Russen vor. „Ich bin ein ehemaliger Berater des ehemaligen Präsidenten der ehemaligen Sowjetunion“ — mit diesen ironischen Worten stellte sich Gorbatschows früherer Pressesprecher Andrej Gratschew vor. Und Bronislaw Geremek, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuß des polnischen Sejm, verglich die ehemalige Sowjetunion mit einer herrschsüchtigen Tante, deren Tod niemand bedauert; ob die Erben, die sich lautstark um ihren Nachlaß streiten, der bösen Alten vorzuziehen seien, müsse sich erst noch zeigen. Ein litauischer Parlamentarier und ein georgischer Filmemacher äußern Zweifel daran, ob die Tante wirklich gestorben sei; ihre Wiederkehr als Zombie sei nicht ausgeschlossen. Zwar sei er froh über den Untergang des totalitären Systems, sagte der russische Schriftsteller Alexander Kabakow, aber daß seine apokalyptische Vision von Moskau im Jahre 2000 so schnell in Erfüllung gegangen sei, mache ihn doch traurig.

Am letzten Tag erschien als deus ex machina Präsident Mitterrand und nahm unaufgefordert auf dem Podium Platz, um, wie er sagte, den Dabatten der Schriftsteller zuzuhören. Statt dessen ließ er sie gar nicht zu Wort kommen und hielt aus dem Stegreif eine einstündige Rede, die zwar inhaltsreich, aber viel zu lang war und die angereisten Intellektuellen zu Statisten im Wahlkampf schrumpfen ließ. Obwohl die Meinungsumfragen ihm nicht nur wegen der Affäre Habbasch eine düstere Zukunft voraussagen, war Mitterrand bester Laune und sprach höchst eloquent über sein Projekt einer europäischen Konföderation, in der die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jogoslawiens ins Souterrain bzw. ins Dachgeschoß einziehen, während die Beletage der guten alten EG reserviert bleibt. Bei aller Kritik an seinem absolutistischen Stil kann ich eine gewisse Bewunderung für Francois Mitterrand nicht verhehlen, der das Bündnis zwischen Geist und Macht nicht als Vernunftehe, sondern als Liebesheirat zelebriert — man stelle sich Helmut Kohl im Gespräch mit Literaten vor! Das Gegenstück zu Mitterrands Rede lieferte Peter Handke, der sich zu den Jugoslawen aufs Podium setzte und demonstrativ schwieg. Hans Christoph Buch