Blankpolierte Kunstgeschichte

Einzelausstellungen von Sherrie Levine und Peter Zimmermann in Münster: Strategien oder Übergriffe  ■ Von Jochen Becker

Sherrie Levine läuft wie Mike Bidlo oder Elaine Sturtevant unter dem Label „Appropriation Art“. „Anstatt Photos von Bäumen oder Akten zu machen, mache ich Photos von Photos“, kommentierte Sherrie Levine ihre Reproduktionen klassischer Bilder nach Weston, Porter, Evans oder Rodchenko. Die Kunst der Aneignung malt nicht nach der Natur, sondern nach Kunstkatalogen. So wird ein Readymade von Marcel Duchamp — also die Setzung „dieses Urinoir ist jetzt Kunst“ — zum potenzierten („assisted“) Readymade: Die New Yorker Künstlerin gießt sechs Pißbecken als Fountain (after Duchamp) in Bronze; „dieses Readymade-Objekt von Duchamp ist jetzt ein Kunstobjekt von Sherrie Levine“.

Während Duchamp in den zwanziger Jahren, parallel zum Niedergang der Natur, auf Massenprodukte des täglichen Gebrauchs zurückgriff, bildet Levine im postindustriellen Umfeld der neunziger Jahre weiterhin bekannte und massenmedial verbreitete Kunstwerke ab. Die blankpolierten Serienobjekte liegen flach auf weißen Sockeln und erinnern in ihrer fast schon abstrakten Objekthaftigkeit an vergleichbar spiegelnde Skulpturen von Duchamps Zeitgenossen Hans Arp. Sherrie Levine arbeitet als angewandte Kunsthistorikerin, die mit ihren Arbeiten nicht nur die nunmehr eingetretene Kunsthaftigkeit einstmals schockierender, dem Alltag entrissener Objekte konstatiert, sondern Duchamp in den Reigen seiner Zeitgenossen einordnet. Ähnlich ging sie mit den etwa zeitgleich entstandenen Aquarellen von Egon Schiele und Kasimir Malevich um: Indem sie die beiden stilistischen Antipoden in ihrer Weise abzeichnete, finden der „expressive Wiener“ und der „abstrakte Russe“ im Stil von Levine wieder zusammen.

Eine ganz andere Form der Zusammenfassung vollzieht sie in ihrer SerieMelt Down: Meisterwerke der Moderne werden eingescannt, um dann mit Hilfe eines Computers den durchschnittlichen Farbwert eines Bildes zu ermitteln. Den durch Rechnerhilfe verschmolzenen Ton überträgt sie anschließend auf ein handliches Mahagonybrett. Aus den gegenständlichen oder mehrfarbigen Ölbildern resultieren — als statistisches Extrakt, nicht als schmutziger Mischwert — monochrome Farbflächen. Nicht ganz verständlich ist jedoch, warum als Beispiel für diese (pseudo)kunstwissenschaftliche und „aktualisierende“ Werkgruppe in Münster ausschließlich Kondensate der sowieso einfarbigen Bilder von Yves Klein auf Tour geschickt wurden.

„Darüber hinaus beschloß ich, mich am rhetorischen Diskurs über meine Arbeit zu beteiligen und las deshalb poststrukturalistische Theorie, die auch die mir bekannten Autoren lasen“, bemerkt die 45jährige New Yorkerin im Kataloginterview der Retrospektive. Hier zeigt sich das Feedback-Verhalten der einander jagenden Kunst-Theorien und Theorie-Künste, die sich in den achtziger Jahren zwischen Künstlern, Philosophen und Kritikern bis zum Kurzschluß gegenseitig hochschaukelten. Daraus resultierte ein vollkommen in sich geschlossenes und gegen äußere Einflüsse abgekapseltes Konstrukt. Die Kunst der Moderne befaßte sich mit Qualitäten des Farbauftrags der maschinengefertigten Objekte; die Nachfolgekunst der Postmoderne widmete sich einer nur für Eingeweihte zugänglichen Kunstphilosophie, die sich allenfalls noch mit Kunstmarkt und -vermittlung auseinandersetzt.

In dieser schönen neuen und unmittelbaren Kunstwelt hält sich auch der Kölner Peter Zimmermann auf. Er ist wie die neun Jahre ältere Sherrie Levine ein eher theoretisch als experimentell vorgehender Künstler und durch das Studium der notwendigen Texte zur Kunst mit dem Status quo vertraut: „Zimmermann hat die Strategien der Musealisierung verstanden“, attestiert ihm Friedrich Meschede, Leiter des ausstellenden Westfälischen Kunstvereins. Einer dieser Fingerzeige für Instruierte ist sein Ausstellungskatalog, der „nach“ Gerhard Richters Atlas- Ausstellung 1976 in Krefeld gestaltet ist. Zimmermann malt und bildet Produkte ab, wechselt dabei aber die ursprünglichen Bildträger. So sprühte er maschinengestützt die Muster handelsüblicher Wolldecken auf leicht flauschige Leinwände, trägt vergrößerte Cover von Polyglott-Reiseführern mittels glänzendem Epoxidharz auf Bildtafeln oder reproduziert Kölner Kinoprogramm-Anzeigen. Anfänglich nur auf der Fläche, nunmehr auch bei plastischen Objekten verzerrt er während der Übertragungen eine Dimension, sodaß beispielsweise das Cover von Langenscheidts Taschenwörterbuch mehr als viermal so breit wie hoch erscheint, oder ein schlanker Verpackungskarton sich über eine Länge von vier Metern erstreckt, wobei sogar die Grifflöcher zu Ovalen ausgedehnt sind. Mit Hilfe eines modernen Fotokopierers oder Scanners, bei dem man die Vergrößerung von x- und y-Achse getrennt eintippen kann, erstellt Zimmermann die Vorlagen für seine Zerrstücke, welche direkt auf Leinwand oder per Siebdruck auf das Papier der Kartons übertragen werden.

Die langgestreckten Verfremdungen nicht besonders spektakulärer Verpackungen liegen säuberlich, als Vierergruppen und parallel ausgerichtet unter dem gleichförmigen Deckenraster des Ausstellungsraumes. Lagen die Kisten bei der ersten Galeriepräsentation noch wie hineingeworfen, so wirken in Münster die aufgeräumten Objekte wie serielle Minimalkunst. Von Warhols gestapelten Brillo-Boxes aus Holz unterscheiden sie sich in ihrer kartonierten Materialität, verzerrten Abmessung, ebenerdigen Auslage und fast abstrakten Unleserlichkeit des Aufdrucks. Erst wenn man sich fast auf den Boden legt, kann man die Aufschrift wieder entzerren. Ein — soweit ich mich erinnern kann — venezianisches Ölgemälde hat mit dem gleichen Effekt und lange vor den Hilfsmitteln moderner Optoelektronik so einen Totenschädel verstecken können.

Durch die zufällige Parallelität der Ausstellung zweier aus den Kunstmetropolen Europas und den Vereinigten Staaten stammenden Künstler zeigt sich Glanz und Elend der theoretisierenden Kunstproduktion, welche im Zeitalter des Expertentums und arbeitsteiliger Spezialisierung eine historisch zwingende und notwendige Ausrichtung ist. In der Nische zu stark abgeschotteter special interests droht jedoch Eskapismus und Realitätsverlust. Levine und Zimmermann sind offensichtlich gebildet, arbeiten überlegt, machen Eingeweihten durchaus schmeichelnde Anspielungen und sind bezüglich des Kunstgeschehens auf dem laufenden. Auf der Strecke bleibt das, was man mit der Ausgangstür des Münsteraner Museumskomplexes betritt.

Peter Zimmermann: Bilder und Objekte , noch bis zum 15.März im Westfälischen Kunstverein, vom 10.April bis 24.Mai im Münchner Lenbachhaus und vom 16.August bis 27.September im Kunstverein Ludwigsburg. Sherrie Levine noch bis 29.März im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, danach in Malmö und Paris.