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Tausende von Opfern nach Erdbeben

In der Osttürkei wurden vor allem öffentliche Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser völlig zerstört/ Expertenkritik: Keine erdbebengerechte Baupolitik/ Anordnung blieb ein Stück Papier  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Zwei Tage nach dem schweren Erdbeben in der nordöstlichen türkischen Stadt Erzincan herrscht immer noch Panik unter der Bevölkerung. Ein Großteil der Einwohner verbrachte aus Angst vor Nachbeben die Nacht bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Freien. „Ich erinnere mich nur an einen großen Krach, danach war alles dunkel“, berichtete die Schülerin Filiz Demir, die aus den Trümmern der Krankenschwesterschule geborgen wurde. Von den 62 Schülerinnen überlebten nur drei.

Das Erdbeben erschütterte Erzincan am Freitag abend dreißig Sekunden lang. Fast 310 Tote und 620 Verletzte wurden bis gestern mittag aus den Trümmern geborgen. Das Beben, das eine Minute dauerte, erreichte eine Stärke von 6,3 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag fünfzehn bis zwanzig Kilometer westlich von Erzincan.

Aus verschiedenen Dörfern im Umkreis liegen noch keine gesicherten Informationen über Tote und Verletzte vor. Es ist zu befürchten, daß die Zahl der Todesopfer noch steigen wird. Nach Angaben der Rettungsmannschaften sind noch Hunderte unter den Trümmern begraben. Die Schätzungen über die Zahl der Toten schwankten zwischen 1.000 und 4.000, die Zahl der Verletzten geht vermutlich ebenfalls in die Tausende. In der 120.000-Einwohner- Stadt ist die Wasser- und Elektrizitätsversorgung zusammengebrochen. Die eingeflogenen Generatoren reichen nicht aus. Mit am wichtigsten ist die Belieferung der Tankstellen mit Strom, da Benzin dringend für die Rettungseinsätze benötigt wird. Die Betten in den Krankenhäusern sind überfüllt. Hunderte von Verletzten verbrachten die Nacht auf Betten im Freien oder in Zelten. Städtische Busse werden als Ersatz für fehlende Ambulanzen eingesetzt. Bislang wurden rund tausend Menschen auf dem Landweg in Krankenhäuser von benachbarten Städten oder per Flugzeug in die Hauptstadt Ankara verlegt. Tausende von Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen. Auf den Fernstraßen in Richtung Erzurum und Sivas bildeten sich lange Konvois.

Vergleichsweise schnell trafen in Erzincan die ersten Hilfslieferungen ein, da die Stadt über einen Militärflughafen verfügt. Mittlerweile ist eine Luftbrücke errichtet worden, über die ein Großteil der Hilfslieferungen eintrifft. Bislang lieferte der Türkische Halbmond 3.000 Zelte, 17.000 Decken sowie 29 Tonnen Lebensmittel in die Krisenregion. Ein mobiles Krankenhaus mit 200 Betten ist im Einsatz, ebenso wie sechs Generatoren und vier mobile Küchen. Über 3.000 Soldaten sind an den Bergungsarbeiten in Erzincan beteiligt. Auch aus dem Ausland traf erste Hilfe ein. Die Bundesregierung in Bonn stellte Zelte und Decken im Wert von 500.000 D-Mark zur Verfügung. Aus der Schweiz traf am Wochenende ein Bergungstrupp mit vierzehn Spürhunden ein. Hilfsorganisationen riefen zu Spenden für die Opfer auf. Unter Federführung des Gouverneurs ist ein Krisenstab zur Koordinierung der Hilfslieferungen gebildet worden. „Noch immer sind nicht genügend Zelte eingetroffen“, sagte der Gouverneur Recep Yazicioglu.

Mittlerweile hat das türkische Kabinett den Ausnahmezustand in Erzincan verhängt. Ministerpräsident Demirel, der am Samstag nach Erzincan flog, zeigte sich erschüttert. „Die Gebäude sind so zusammengekracht, daß es nicht möglich ist, lebendig dort rauszukommen. Brot, Medizin, Benzin werden benötigt. Wir haben entsprechende Maßnahmen eingeleitet.“

Unterdessen übten türkische Experten heftige Kritik an der Baupolitik in Erzincan, die die Katastrophe geradezu herbeigeführt habe. Die auflagenstärkste türkische Tageszeitung 'Hürriyet‘ titelte gestern Nicht Schicksal, sondern Mord. Erzincan gilt in der Türkei als „ersten Grades erdbebengefährdet“. Schon bei dem Erdbeben von 1939 starben über 33.000 Menschen. 1940 wurde eine Bauverfügung erlassen, die erdbebengerechte Neubauten vorsah und mehrstöckige Gebäude verhindern sollte. Offensichtlich blieb diese Verfügung ein Stück Papier. Insbesondere mehrstöckige öffentliche Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser waren es, die in Erzincan total zerstört wurden, während einstöckige Geschäfte und Häuser nicht in dem gleichen Ausmaß betroffen waren. Auch die ländlichen Gebiete wurden weniger stark getroffen.

Cetin Yilmaz, Professor an dem für Erdbeben zuständigen Forschungsinstitut der Middle East Universität in Ankara, kritisierte die öffentliche Baupolitik. „Gerade Gebäude, wie Krankenhäuser, Schulen und der Gouverneursitz müssen erdbebensicher gebaut werden. Doch die Bauunternehmer halten sich nicht an die Bestimmungen. Ein Erdbeben in der Stärke 6,3 laut Richterskala hätte in Japan wenig Schaden angerichtet.“ Gerade Gebäude, die nach einem Erdbeben eine zentrale Rolle spielen, wie die Feuerwehr und Krankenhäuser, waren von Zerstörungen betroffen. Von achtzig Patienten und vierzig Mitgliedern des Krankenhauspersonals im Krankenhaus der Sozialversicherung in Erzincan überlebten gerade fünfzehn Menschen das Erdbeben.

„Das ist doch gegen jede Wissenschaft und Physik“, wunderte sich Premier Demirel, daß in einem Erdbebengebiet, wo eigentlich „keine Stadt stehen sollte“ Hochbauten errichtet wurden. Der Staatsminister Erman Sahin, zuständig für Bau- und Siedlungswesen kündigte an, daß die Vergabe der Bauaufträge untersucht werden soll: „Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

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