Biedermann und die Langweiler

„Der neue Menoza“ vom Auf-dem-Kopf-Geher Jakob Michael Reinhold Lenz als LTT-Recycling  ■ Von Christian Gampert

Ach, „diese Langeweile!“ seufzt es noch bei geschlossenem Vorhang von der Bühne. Gott, wie verbiestert, stöhnen auch wir zweidreiviertel Stunden später. Tatjana Rese, früher Regisseurin in Schwedt (Oder), jetzt Oberspielleiterin in Esslingen, hat am Tübinger LTT ein Stück von Jakob Michael Reinhold Lenz inszeniert — warum, das wird den ganzen Abend nicht klar. Deutlich wird nur, wie schnell eine Ex-DDRlerin sich auf die gepflegte Lethargie der alten Bundesrepublik einläßt.

Der neue Menoza ist ein wildes Stück mit einer Unzahl klitzekleiner Szenen, die alle gegen die deutsche Saturiertheit Sturm und Amok laufen. „In Eurem Morast ersticke ich — treib's nicht länger — mein Seel nicht!“ Geschrieben: 1773. Haltbarkeit: vorerst unbegrenzt. Lenz schickt, ein bekannter dramaturgischer Trick der Aufklärung, einen edlen Krieger auf ethnologische Expedition ins angeblich vernunftgeleitete Europa: Der findet dort nur Idiotie und Eitelkeit. Der scheinbar naive Blick des Außenseiters ist Antriebsmoment der Handlung: Das Stück heißt im Untertitel „Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi“.

Deshalb versteht Lenz sein Opus auch als „Püppelspiel“; die frühbürgerlichen Figuren, die der Prinz beobachtet, hängen alle schon an den Fäden des Absurden, der Fremdbestimmung, leider unter einer grotesken Persönlichkeitsspaltung. Lenz, der seinem Meister Goethe wie ein Affe nachlief und nach dessen Einschätzung dabei manche „Eselei“ beging, hat mit dem Weimarer Klassik-Satrapen schriftstellerisch rein gar nichts zu tun: Er ist ein früher Vorfahr der Chaotomanen, der Jarrys und Achternbuschs, auch wenn seine Sprache sich noch mit manchem Zierat schlau behängt. Und wer den Lenzschen Anarchismus nicht ernst nimmt, der zahlt als Regisseurin einen hohen Preis.

Tatjana Rese legt Wert auf erhabenes Sprechen und gestelzte Komik: Man kann natürlich auch Dario Fo wie Lessing vortragen, nur lacht dann keiner mehr. Nicht grelle Glieder- und Gelenkattrappen aus einem Püppelspiel, aus einem bösen Grand Guignol treten in Tübingen auf die Bühne, sondern Gestalten eines deutschen Dramas. Es geht, wie immer hierzulande, um Geld, Besitz und Sittsamkeit. Dankenswerterweise ist der Prinz nicht als ausländischer Mohr angeschmiert, aber gar so dezent, wie Georg Scharegg ihn gibt, braucht er nun auch nicht zu sein: zuerst mit Schal und Turban, dann als wohlerzogener Indianer und als lieber Punk — ein Botschafter des guten Geschmacks. Eine Nebenrolle.

Angelpunkt des Geschehens ist in Tübingen Familienvater Biederling (Dietrich Schulz), der hübsch schwäbisch das Gartenlaub zusammenfegt und sich effektvoll durch den Abend chargiert. Schon recht, Kehrwoche ist Pflicht. Aber warum ausgerechnet bei Lenz? Der kleine Prinz windet sich durch allerlei Kabalen, auch die Liebe ergreift Besitz von ihm, denn eine kußmundige, korkenziehergelockte Wilhelmine sitzt wie Effi Briest auf der Schaukel und schmachtet ihn (in Gestalt der patenten Christine Sommer) huldreich an. Graf Camäleon, dessen camäleonesker Charakter sich vor allem im Bedienen eines Fächers äußert, fistelt und kichert aufdringlich durch Biederlings Vorgarten und wirft sich auf das wilhelminische Töchterlein. Und der Prinz erklimmt ein kahles Bäumchen, das schwer Beckett-mäßig im Bühnenbild herumsteht, und stellt uns allen eine verheerende Diagnose: „Die Welt liegt im argen.“

Das alles könnte lustig sein. Aber die Abläufe zu den makabren Momenten dauern elendiglich lang. Die Tübinger Schauspieler sind an diesem Abend zum Teil vorzüglich, der famose Gotthard Sinn gibt einen heruntergekommenen „Bakkalaureus“, der depressiv auf seiner Geige herumkratzt, Hans-Rudolph Spühler mimt den Grafen als graziös greinendes Adelswrack, als hysterischen Hermaphroditen, und doch bleibt alles seltsam blutleer, sprachtheatralisch. „Ich möchte rasend werden“, sagt des Grafen eifersüchtige Gräfin. Jaja, sie möchte schon.

Woran liegt's? Ich glaube, Tatjana Rese ist einem Mißverständnis aufgesessen. Sie hat Lenzens Satire auf die deutschen Verhältnisse zu ernst genommen, hat das Kabarettistische langstrophig wie aus dem Gesangbuch inszeniert. Zwischendrin bekommt sie dann Schiß und läßt die Bühnenfiguren vom Erhabenen ins Volkstheater abschmieren: Dann sieht man plötzlich, daß der autoritär gekrümmte Herr Biederling derselben Sippe angehört wie die Menschenrümpfe des Franz Xaver Kroetz.

Aber man kann nicht, wie die Regisseurin das tut, gleichzeitig bildungsbeflissen sein und Ohnsorg mit Handbremse machen. Das ist, um bei Kroetz zu bleiben, nicht Fisch und nicht Fleisch und also sterbensfad.

Am erstaunlichsten ist das Bühnenbild von Achim Römer: unten Laub und Sofas, oben eine Plexiglaskuppel, die wie ein Planetarium ausschaut — schöner Wohnen im Theater. Darüber leuchten die Glühlämpchen beziehungsweise Sterne. Folglich ist Hausvater Biederling auch Hobby-Astrologe. Brav! Der umgekehrte Weg wär' der richtige gewesen: von Cumba, von einem anderen Stern, aus großer Entfernung und mit Lenzscher Häme auf den deutschen Michel gucken, aufs teutonische Kasperlspiel.

Zugegeben: das Stück ist schwierig. Aber bei weitem nicht so verzwungen, öd und komödiantenschwer, wie es das LTT unter die Galaxien hängt.

Landestheater Tübingen: Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. Regie: Tatjana Rese, Bühne: Achim Römer. Mit Dietrich Schulz, Sylvia Cappallo, Christine Sommer, Georg Scharegg u.a. Nächste Vorstellungen: 20.März in Reutlingen, 25., 26. und 27.März in Tübingen.