Mit Vollgas in den Sackbahnhof

Bundesverkehrsminister Krause versucht jede Bürgerbeteiligung bei der Planung neuer Straßen zu unterbinden/ Seine zahlreichen Vorstöße zur Beschleunigung der Verfahren sind rechtsstaatlich äußerst zweifelhaft  ■ Von Annette Jensen

Verkehrsminister Krause schreibt auf Umweltschutzpapier. Er ist Naturfreund, Retter vieler Lurche, Schnepfen und Wasserrosen — wenn man seiner Bürgerbroschüre glauben schenkt: „Umweltschutz ist ein selbstverständlicher Bestandteil der Verkehrsplanung... Wo sich Beeinträchtigungen nicht vermeiden lassen, werden Ausgleichsmaßnahmen durchgeführt. Es entstehen neue Wälder, es werden Feuchtbiotope für Pflanzen, Wassertiere und Amphibien angelegt, Trockenbiotope, Grünbecken und Krötentunnel gebaut“. Aber leider, leider: dringender Handlungsbedarf „ergibt sich aufgrund der erschreckenden Unfallbilanz in den neuen Ländern: Das plötzliche, ohne vorhergehenden Anpassungsprozeß gemilderte Zusammentreffen zweier sehr unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen hat zu fatalen Auswirkungen im Verkehr geführt. Der desolate Zustand des Verkehrsraumes, die inhomogene Zusammensetzung des Kraftfahrzeugbestands und die Zunahme des Verkehrs seit der deutschen Einheit tun ein übriges.“ Da fällt dem Verkehrsminister nicht etwa ein, den neuen Bundesbürgern Plätze in sicheren Bahnen zu verschaffen; nein: neue, breitere, schnellere Straßen müssen her — und zwar schnell. Denn schließlich gibt es ohne eine „ordentliche Verkehrsinfrastruktur“ auch keinen Aufschwung im Osten. Und weil sich die Bürger in den letzten Jahren zunehmend gegen noch mehr Asphalt gewehrt haben, versucht der Verkehrsminister an allen Ecken, die ihm lästige Beteiligung der Öffentlichkeit zu verhindern.

Die Länderminister sind da nicht grundsätzlich anderer Meinung, nur hier und da heftet sich ein sozialdemokratischer Amtskollege die Verhinderung eines Projekts ans Revers. 976 Neu- oder Ausbauten für Bundesfernstraßen stehen auf der Wunschliste der Länder für den Bundesverkehrswegeplan, Saarland noch nicht mitgerechnet. Knapp 60 Prozent der angestrebten 9.199 Asphaltkilometer haben die Ostländer beim Bundesverkehrsminister angemeldet. Und auch im Westen nichts Neues: die rot-grünen Regierungen fallen in der Statistik nicht durch Zurückhaltung auf.

Kosten-Nutzen nach Art des Hauses Krause

Bis Anfang April hofft das Krause- Ministerium, eine Prioritätenliste zu erstellen, die auf Analysen aus externen Gutachterbüros fußt. Ministerialrat Hermann Deffke, der diesen Prozeß koordiniert, beschreibt die Kriterien: „Wir machen eine Kosten-Nutzen-Analyse und versuchen die Projekte im volkswirtschaftlichen Gesamtkreislauf zu bewerten.“ Für ein Straßenbauprojekt zählen demnach die Fahrtzeiteinsparungen des einzelnen, Kosten für vermeintlich zu verhindernde Unfälle und kürzere Anfahrtswege für Zulieferer. „Abnutzung von Fahrzeugen ist ja auch ein gesamtwirtschaftlicher Faktor.“

Der so ermittelte Nutzen wird den Baukosten gegenübergestellt: hat er einen dreimal höheren Wert als die vermuteten Aufwendungen, erhält die Planung das Prädikat „vordringlicher Bedarf“ und soll in 10 bis 15 Jahren fertiggestellt sein. Außerdem beurteilen die Gutachter das ökologische Risiko, die städtebaulichen Auswirkungen und die Wechselwirkungen zwischen Straßen- und Schienenverkehr. Allerdings könnten die Ministerialen die Auswirkungen auf die Umwelt oft noch nicht konkretisieren, weil die Trassenführung zu diesem Zeitpunkt noch nicht festliegt.

In welchen Fällen die nicht-ökonomischen Faktoren als schwerwiegender eingestuft werden als der — vermeintliche — Nutzen, will Deffke nicht ausführen: „Wir erarbeiten hier lediglich Entscheidungshilfen, der Verkehrsminister macht dann einen Vorschlag, und das Kabinett beschließt den Verkehrswegeplan. Über den Teil zum Bundesstraßenbau entscheidet der Bundestag.“ Haben die Parlamentarier dann das Paket verabschiedet, ist „die Feststellung des Bedarfs verbindlich“ — so steht es im Dritten Rechtsbereinigungsgesetz, das im Juni 1990 fast unbemerkt von der Öffentlichkeit verabschiedet wurde. Bis dahin konnten Gegner bestimmter Trassen die Erforderlichkeit des Projekts vor Gericht anfechten.

In den letzten Verkehrswegeplan von 1985 wurden fast alle von den Ländern beantragten Straßen auch aufgenommen. Nur 20 bis 30 Projekte wurden damals gekippt, schätzt der Ministerialrat. Allerdings sind viele 1985 abgesegneten Verkehrswege noch nicht gebaut und auch noch nicht in fortgeschrittenem Planungsstadium: es fehlt schlicht und einfach das Geld dafür.

Auf 300 Milliarden Mark schätzt das Bundesverkehrsministerium seinen Finanzbedarf, so daß ein dickes Loch von mindestens 100 Milliarden Mark in der Haushaltskasse klafft. Schon länger läßt Minister Krause die Möglichkeiten für eine Privatfinanzierung prüfen, und Ende Januar hat das Kabinett beschlossen, zwei Pilotprojekte zu starten. Noch in diesem Jahr sollen der Engelberttunnel bei Stuttgart und die Eisenbahnlinie Nürnberg-Ingolstadt-München ausgeschrieben werden. „Wir haben uns grundsätzlich darauf verständigt, daß es keine Mautregelung geben soll“, sagt Gert-Jürgen Scholz, Sprecher des Krause-Ministeriums. Zur Zeit favorisieren die Planer ein „Konzessionsmodell“, bei dem im Gegensatz zum vorher angestrebten Leasing-Verfahren der Grund und Boden im Eigentum des Staats bleibt. Dies hat aus Sicht der Planer nicht nur den Vorteil, daß Enteignungsverfahren einfacher möglich sind, sondern auch, daß nach Ablauf der Vertragszeit der Bauherr nicht einfach Gebühren von den Benutzern erheben kann. Für die Dauer des Vertrages zahlt der Staat dem Investor jährlich eine Abgabe. Zwar werden der Straßentunnel und die Eisenbahnstrecke so letztendlich auch vom Steuerzahler bezahlt, und zwar noch teurer als bisher, aber der Posten schlägt nicht sofort, sondern erst nach und nach zu Buche.

Die Straße kommt — der Bürger steht am Rand

Aber nicht nur die mangelnden Finanzen hat Krause als Hemmschuh eines Aufschwungs im Osten ausgemacht; vor allem die Planungs- und Bauzeiten seien viel zu lang. „Wenn Sie sich mal anschauen, welches Hickhack es in den Gemeinden über die genaue Trassenführung gibt, dann scheint eine Beschleunigung dringend geboten“, so Gert-Jürgen Scholz aus seiner Bonner Perspektive. Für den Osten hat Krause das schon durchsetzen können: im November ging das „Beschleunigungsgesetz“ (von Gegnern auch „Ermächtigungsgesetz“ genannt) mit den Stimmen der sozialliberalen Regierung in Rheinland-Pfalz und der großen Koalition in Berlin durch den Bundesrat. Es sieht vor, daß in den fünf neuen Ländern und Berlin die Beteiligung der Öffentlichkeit extrem eingeschränkt wird. War bisher die Klage durch drei Instanzen möglich, so können Bürger im Osten nur das Bundesverwaltungsgericht anrufen. Nicht nur die teuren Anwaltskosten werden viele von einem Prozeß abschrecken. „Anträge auf einstweilige Verfügung sind zwar weiterhin möglich, werden aber an der Behäbigkeit des Bundesverwaltungsgerichts scheitern“, prognostiziert Karl-Heinz Ludewig vom Arbeitskreis Verkehr in Berlin. „Wenn das Gericht nach Jahren zu einem Urteil kommt, ist die Straße schon längst gebaut.“

„Der Bundesminister für Verkehr bestimmt die Linienführung der Verkehrswege mit Ausnahme der Straßenbahnen“, heißt es in Paragraph 2 des Gesetzes. Die total überlasteten Landesbehörden müssen spätestens nach sechs Monaten zu den Vorstellungen des Bundesverkehrsministeriums Stellung genommen haben — ansonsten entfällt das Raumordnungsverfahren, und das „Benehmen gilt als hergestellt“. Die ursprünglich schon zu diesem Zeitpunkt fällige Umweltverträglichkeitsprüfung, an die durch EG-Beschluß eine Beteiligung der Öffentlichkeit gekoppelt ist, wurde durch das Gesetz nach hinten ins Planfeststellungsverfahren verschoben. Völlig außen vor sollen die Bürger bleiben, wenn angeblich „Rechte anderer nicht beeinträchtigt werden“ und Krause somit statt dessen gleich eine Plangenehmigung vornehmen kann. Umweltschützer fürchten, daß die Trassenführung dann nur noch danach ausgewählt wird, wo keine Enteignungen notwendig sind und somit gleich eine Plangenehmigung möglich ist. Daß die Straße eventuell einen ökologisch wertvollen Staatsforst zerschneidet, ist für die Beschleuniger dann ein „bedauerliches, aber notwendiges Opfer“.

Noch gilt das Beschleunigungsgesetz nur im Osten und ist bis 1995 für Bundesstraßen und bis 1999 für Schienenstrecken begrenzt. Allerdings wird Krause von verschiedenen Ländern gedrängt, einen ähnlichen Vorstoß auch im Westen zu starten. Die baden-württembergische Regierung schlägt sogar vor, das Gesetz ohne Zeitbegrenzung zu verabschieden.

Experten werden mit links überholt

„Die Politiker ignorieren dabei völlig die Expertenmeinungen“, sagt Heinz Klewe vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Auch die Gutachter, die die Stuttgarter Landesregierung beraten haben, wären zu dem Ergebnis gekommen, daß „die Reduzierung des Stellenwerts von Umweltschutz und Bürgerbeteiligung kontraproduktiv im Sinne einer zeitlich kürzeren Realisierung von Verkehrswegen wirken“. Klewe erwartet im Gegenteil, daß sich das Beschleunigungsgesetz möglicherweise sogar als Bremsklotz für die Straßenfreunde erweist: denn nur ein Projekt mit gesicherter Rechtslage, das auf einen „gesellschaftlichen Konsens vertrauen kann“ und dessen Finanzierung gesichert ist, kann in relativ kurzer Zeit gebaut werden. Das aber trifft auf Krauses Pläne nicht zu. „Die vom Bundesverkehrsminister angestrebte Halbierung der Planungszeit sowie der genannte Zeithorizont von zwei bis fünf Jahren für spürbare Verbesserungen im Ost-West-Verkehr ist unrealistisch.“

Das Beschleunigungsgesetz erscheint Verkehrsminister Krause für bestimmte Straßen, Kanäle und Schienentrassen noch immer als zu demokratisch. Deshalb visiert er für 17 „Verkehrsprojekte deutsche Einheit“ Maßnahmengesetze an, die die Gewaltenteilung außer Kraft setzen: Entscheidungen über die Durchführung eines Vorhabens sollen dann nicht mehr bei den Verwaltungen liegen, sondern vom Bundestag direkt zum Gesetz erhoben werden. „Der Bundesminister für Verkehr wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates die Pläne ... zu ändern, soweit nach Inkrafttreten dieses Gesetzes Tatsachen bekannt werden, die der Ausführung des Vorhabens nach den getroffenen Festsetzungen entgegenstehen“, heißt es in Krauses Vorschlag. Selbst der ADAC befürchtet, daß wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken die Verwirklichung der Maßnahmengesetze möglicherweise länger dauert als mit herkömmlichen Planungsverfahren.

Ausprobieren will der Verkehrsminister das Verfahren mit der Autobahn zwischen Halle und Magdeburg sowie mit der Schnellbahnverbindung Hannover-Berlin. Aber auch wenn Krause immer wieder betont, er habe ein brennendes Interesse an der Verbesserung der öffentlichen Transportmittel und folgerichtig Maßnahmengesetze für neun Schienen-, aber nur sieben Straßenprojekte vorschlägt. Seine hehren Worte entpuppen sich schnell als Mogelpackung: Denn während es sich bei den Eisenbahnlinien vorwiegend um Ausbauten handelt, will er die Straßen neu in die Landschaft hauen.

Unterdessen werden im Osten immer mehr Eisenbahnstrecken stillgelegt, und die Blechlawine wächst. „Gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet herzustellen“ ist das erklärte Ziel des Verkehrsministers aus dem Osten. Vorhaltungen, dem Verkehrsinfakt sei durch neue Straßen nicht beizukommen, schlägt er in den Wind: Die Wessis gönnen den Ossis den Aufschwung einfach nicht.