Mielke-Prozeß: „Verschollene“ Akten aufgetaucht

■ Der Angeklagte interessiert sich mehr und mehr für sein Verfahren/ Wird er schon im Spätsommer sprechen?

Berlin (taz) — Die gestrige Hauptverhandlung gegen Erich Mielke währte satte 19 Minuten. Dennoch geschah Wichtiges: Nach sechswöchigem Insistieren der Verteidigung, nach der Drohung, einen veritablen Hamburger Regierungsrat, der die Akten noch 1985 vollständig gesichtet haben soll, als Zeugen zu präsentieren — nach all dem war es der Staatsanwaltschaft tatsächlich gelungen, die noch vermißten beiden Bände — jener mit Buchstaben numerierten Beiakten — welche seit 1934 ununterbrochen in den Regalen ihres Archivs gelegen hatten, aufzufinden und sie dem Hohen Gericht zu apportieren — nicht ohne Stolz, fast schwanzwedelnd. Herzlichen Glückwunsch! Die Verteidigung braucht selbstverständlich Zeit, die Trouvaille zu studieren. Daher das schnelle Ende der Sitzung.

Allerdings: Noch fehlen Akten, nämlich die wichtigen Protokollbände der Hauptverhandlung anno domini MCMXXXIV. Bände, die auf dem Weg zwischen der sich auflösenden Generalstaatsanwaltschaft der DDR, zu dem illegalen Aktenbenutzer und schlechten Mielke-Biographen Jochen von Lang über eine Hamburger Anwältin irgendwo abhanden kamen. Aber wo?

Diese Frage konnte und wollte das Gericht gestern selbstverständlich nicht vertiefen. Vielmehr lehnte es den von der Verteidigung erneut vorgetragenen Antrag ab, daß das Verfahren verjährt sei. Die Schuld trage der sowjetische Stadtkommandant, also der Große Bruder, der die Verjährung „hemmte“, als er die Mielke-Akten rechtswidrig und entgegen damals geltendem alliiertem Recht schlicht einbehielt. Anders, als ursprünglich auch vom Gericht behauptet, sind die Akten aber nicht in Mielkes Wandlitzer Privatwohnung gefunden worden. Vielmehr spricht man inzwischen unisono nur noch vom „Amtszimmer in der Stasi-Zentrale“. Vielleicht kann der Angeklagte ja selbst weiterhelfen. Womöglich ließ er gar eine „Ablichtung“ fertigen. Mielke soll nämlich, so vertraute Rechtsanwalt Gerd Graubner der Deutschen Presse-Agentur an, inzwischen Lust bekommen haben, die Prozeßakten zu studieren. Das kann, so Graubner, „mehrere Monate dauern“. Aber dann im Spätsommer: dann wird Erich Mielke ein Gänseblümchen abzupfen und — soll ich, soll ich nicht? — „möglicherweise aussagen“. Erinnerungsarbeit steht ins Haus. Die taz wird sie tatkräftig fördern. Götz Aly