Zwei Leichen & ihre Verwendung

Zwei Erzählungen zur Geschichtstheorie von Simon Schama  ■ Von Nils Minkmar

Zwei Leichen in Neuengland: Am Rande eines von verletzten Soldaten übersäten Schlachtfeldes, inmitten von Pferdekadavern, findet ein müder Soldat General James Wolfe. Er liegt blutüberströmt unter einem dürren Gebüsch, sein Gesicht hat bereits eine grünliche Färbung angenommen. Die Franzosen fliehen, die Schlacht ist gewonnen. General Wolfe ist mausetot und ein Held.

In einem Ofen und in einer alten Teekiste finden der Hausmeister des Harvarder Medicinal College und der Sheriff von Boston die teils verkohlten, teils verätzten Reste einer menschlichen Leiche. Ein Kunststoffklumpen weist darauf hin, daß der Tote Gebißträger gewesen sein muß. Ist dies der eklige Rest des seit einigen Jahren vermißten Dr.George Parkman?

Harvard und Boston, Massachusetts im 19.Jahrhundert.

Hier lebt die geistige Elite des Landes, der feine Bildungs- und Besitzadel. In den Salons der Kaufleute und Professoren feiert sich unermüdlich jene gleichermaßen auf sittliche Makellosigkeit wie auf politisch-kulturelle Führung bedachte Schicht. Sie verkörpert, jedem und jeder von ihnen ist das klar, den hohen moralischen und religiösen Anspruch der noch jungen Vereinigten Staaten.

Doch dieser kulturelle Führungsanspruch war nicht unumstritten. Horden von irischen Einwanderern bevölkerten die Hafenstadt, und mit ihnen kamen die Cholera, die Prostitution, und, am allerschlimmsten, der Katholizismus. Hier in Boston würde sich entscheiden, welche Kultur das neue Land prägen würde, welche Geschichtsbücher geschrieben werden würden, und auch, welche Geschichten die Eltern ihren Kindern, die Wirte den Gästen und die Jäger den einsamen Goldsuchern erzählen würden. Damals in Boston waren die Zeiten günstig für Legenden, Geschichten vom Martyrium der Helden und von der Gefährdung der Reinen durch grauenvolle Sünden.

Die beiden eingangs vorgestellten Leichen, 1759 beziehungsweise 1849 gestorben, stehen am Anfang zweier solcher Geschichten, die sich in Druckwerken und Erzählungen wie Präriefeuer über das Land verbreiten würden.

Die Geschichte dieser Geschichten, mithin also auch die der Leichen, erzählt Simon Schama in seinem neuen Buch. Verwirrenderweise ist er selbst Professor in Harvard und Autor einiger sehr erfolgreicher historischer Bücher. So ist dieses Buch auch eine Selbstreflexion: Wie entstehen Geschichten, was tun wir, wenn wir eine Geschichte erzählen, und in welchem Verhältnis stehen wir zur Wahrheit derer, die sie erlebt haben?

Für jeden aufrechten Yankee war die Lektüre der dicken Bände von Francis Parkmans Geschichte des Anglo-Französischen Krieges eine reine Freude. Die Sprachgewalt, mit der hier die Helden des 18.Jahrhunderts, die Wälder des Nordens und die entscheidenden Schlachten beschworen wurden, vermochte kein anderer Historiker nachzuahmen. Wenn überhaupt eine dem Helden Wolfe gemäße Darstellung für die folgenden Generationen ersonnen werden konnte, dann im Geiste dieses Harvard-Professors.

Angeödet von der altenglischen Tradition, von der Selbstzufriedenheit der Bostoner Pfeffersäcke und Unitarierprediger, suchte Francis Parkman ein unverfälschtes, von Konventionen entschlacktes, ein romantisches Amerika. Doch sein sehnsüchtiger Geist war so ziemlich das einzige an ihm, was manchmal genügend Kraft aufzubringen vermochte, um sich vom Alltag Neuenglands zu entfernen. Schama beschreibt, wie der von fortschreitender Arthrose und Depressionen geplagte Historiker in seiner düsteren Mansarde seine persönliche Schlacht um die Niederschreibung seiner Heldengeschichten schlägt. Francis Parkman, dessen Alltagsleben fast in der Hand seiner Schwägerin und den Ärzten von Harvard lag, verlangte nach einem nordamerikanischen Helden, einem, der durch Mut und Willenskraft seine schwächliche Konstitution ausgleicht, der in den Wäldern lebt, und der, anstatt allmählich zu vergreisen, im Augenblick seines größten Triumphs stirbt. Hätte es General Wolfe nicht gegeben, Parkman hätte ihn erfinden müssen.

Am 23.November wurde Dr.George Parkman, ein Onkel des Historikers, zum letzten Mal lebendig gesehen. Er war am Vormittag zu seinem üblichen Gang durch Boston aufgebrochen, auf dem er nicht nur die übliche Miete seiner Häuser einsammeln wollte, sondern auch eine alte Schuld einzufordern gedachte. Der Schuldner war Prof.John Webster, ein Chemiker in Harvard, dessen aufwendige Haushaltung allein schon seine Einnahmen aufbrauchte, und der sich für den Ankauf seltener wissenschaftlicher Objekte, etwa eines Mastodon-Skeletts, immer größere Summen leihen mußte. Am nächsten Tag, Parkman wurde bereits gesucht, erklärte Webster allen, die er traf, er habe sich unmittelbar vor dessen Verschwinden noch mit seinem Gläubiger geeinigt, die Schuldscheine würden nun endlich vernichtet werden. Der Hausmeister des College, der sowohl die Geldsorgen Websters wie den Geiz Parkmans kannte, schöpfte als erster Verdacht. Als der Sheriff im Keller des Medicinal College unter Websters Labor die Teile einer zerlegten und zersetzten Leiche fand, wurde der Harvard-Professor verhaftet und in einem monatelangen Indizienprozeß überführt.

Während des Prozesses, den Zeitungskorrespondenten aus dem ganzen Land verfolgten, gingen im Büro des Gouverneurs stapelweise Briefe ein, in denen abwechselnd von der Unschuld Websters, vom nahenden Untergang der sündigen Menschheit oder vom tatsächlichen Verbleib Dr.Parkmans gekündet wurde. Und immer wieder beschworen diese Briefe die Familie des Professors, seine Frau und die vier Töchter und baten um Gnade für einen Mann von untadeligem Ruf, gegen den nur Indizien sprachen.

Konnte man denn überhaupt sicher sein, so fragten nicht nur die Zeitungskommentatoren, daß die Leichenteile tatsächlich von Dr.Parkman stammten? Bei der Analyse der Reste des künstlichen Gebisses widersprachen sich die beiden Experten, und selbst gute Freunde konnten in den gefundenen Knochen nicht mehr die Gestalt des Vermißten erkennen. Was war daran verwunderlich, im Keller eines medizinischen Instituts Leichenreste zu finden?

Der Webster-Prozeß war das erste große Indizienverfahren in der Kriminalgeschichte der USA. Noch immer waren das Geständnis und die Zeugenaussage die entscheidenden, anerkannten Instrumente, die zur Verurteilung eines Mörders produziert werden mußten. Logische Deduktionen, mit denen Conan Doyle später berühmt werden sollte, vermittelten bei weitem nicht jenes Gefühl von Reinigung und Sühne, auf das die amerikanische Öffentlichkeit nach Monaten der Spannung nun zu hoffen berechtigt war.

Nach all den abgesagten Tanzstunden, Parties und Schlittschuhfreuden wäre ein in letzter Minute auftretender Augenzeuge, ein anderer, gruseligerer Mörder oder ein kniefälliges Bekenntnis angemessener gewesen als die trockene Diskussion der durch die ganze Sache ohnehin nicht populärer gewordenen Wissenschaftler.

John Webster wurde gehenkt und seine Leiche an einem geheimen Ort bestattet. Man befürchtete, sie könne ausgegraben werden, um nach ihr eine Wachsfigur herzustellen, die dann auf den Jahrmärkten des Landes herumgezeigt werden würde.

Die Kluft zwischen der Wahrheit des Erlebens und der, die der Historiker ermittelt und aufschreibt, ist, so ließe sich die — durchaus vom Denken Hayden Whites beeinflußte — dem Buch zugrundeliegende Erkenntnis zusammenfassen, ebensowenig überwindbar wie jene, die die Lebenden von den Toten trennt.

Schamas vielfältig gebrochene, dokumentarische wie dramatisierte Rekonstruktion der Geschichten von Wolfe, Webster und den Parkmans verzichtet folglich auch auf den Anspruch, in der Art forensischer Gutachter möglichst exakte Beweise bringen zu wollen. Sein Platz ist nicht beim Obduktionstisch oder vor den Schranken des Gerichts, sondern auf dem Büchermarkt.

Simon Schama: Wahrheit ohne Gewähr. Kindler Verlag München, 318Seiten, geb., 42DM.