DEBATTE
: Die französische Krankheit

■ Ein Grundmechanismus parlamentarischer Systeme funktioniert nicht mehr

Eine Partei hat die Regional- und Kantonalwahlen in Frankreich vom kommenden Sonntag schon gewonnen: die Nicht- Wähler. Zweiter Sieger wird die Partei sein, die auf der Klaviatur der Anti-Parteien-Partei am besten spielt: der Front National. Dann kommen die Formationen, die sich das Etikett „neue Partei“ angeheftet haben: die beiden grünen „politischen Vereinigungen“. Im Verfolgerfeld haben die Kandidaten die Nase vorn, die sich von „den Parteien“ (die sie aufgestellt und bezahlt haben), am besten gleich von „der Politik“ insgesamt, distanzieren. Unter ferner liefen rangieren diejenigen, die den Zeitgeist noch nicht begriffen haben und als ordinäre Partei-Politiker ins Rennen gegangen sind und Kompetenzen bloß in Abfallwirtschaft oder bei der Sozialversicherungsreform aufweisen, die Ärmsten.

Das ist eine Wahlprognose — und das Bild einer Krankheit, die man „la maladie française“ nennen möchte. Gewiß: nicht Frankreich, diese „gewisse Idee“ (de Gaulle), an sich ist krank. Aber Rhythmusstörung und Immunschwäche der politischen Systeme, die man in Europa allerorts diagnostiziert, sind dort besonders gut zu studieren.

Die Symptome: ein galoppierender Absentismus, zu deutsch: annähernd die Hälfte der Wahlberechtigten bleibt zu Hause, und zwar in der Regel ohne auf alternative, unkonventionelle Formen der Partizipation umzusteigen;

—ein generelles Ras-le-bol, zu deutsch: Schanuze voll vom ganzen politischen Betrieb und Personal, für dessen Korruption, Unfähigkeit und Ignoranz (alias „Bürgerferne“) man täglich ein Dutzend Beispiele finden kann;

—die übermäßige Häufung von politischen Skandalen — Selbstbedienung aus öffentlichen Kassen, Parteispendenaffären, Aids-verseuchte Blutkonserven usw. usf. — setzte ihre reinigende Funktion außer Kraft;

—das explosionsartig anwachsende Protestwählerpotential Le Pens, der Immigrationsängste erfolgreich mit Anti-Politik-Affekten kombiniert, geht auf fünf Millionen zu und wird damit nicht nur salon-, sondern mehrheitsfähig.

Ähnlich wie bei Jörg Haider und anderen shooting stars des europäischen Nationalpopulismus zwischen Antwerpen und Mailand hat man die ganze Rhetorik des Antifaschismus und Antirassismus auch gegen Le Pen durchgespielt — ohne sichtbare Wirkung. Die hilflose Reaktion der französischen Sozialisten, die zwischen Instrumentalisierung, Kriminalisierung und Imitation des FN schwankt, paßt ins Kalkül des Populisten, der die „Altparteien“ erscheinen läßt wie Maikäfer, die auf dem Rücken liegen und strampeln.

Paris ist ein locus classicus der Parteienverdrossenheit. Die Verfassung der Fünften Republik institutionalisierte geradezu das Mißtrauen in den Parteienstaat. Ihm lastete man die Niederlage von 1940 und den Schlamassel von 1954 an; von ihm ging angeblich die Dekadenz der französischen Gesellschaft aus. Dabei ist der Parteienstaat in Frankreich viel schwächer ausgebildet als in Deutschland und anderswo in Europa. Nur die Linksparteien nennen sich beim Namen; andere tarnen sich als Union, Sammlung, Föderation, Zentrum oder gar Generation. Höchste Popularität genießen Parteidissidenten wie Michel Rocard, überparteiliche Technokraten wie Raymond Barre, außerparteiliche Lichtfiguren wie Simone Weil und parteiferne Zampanos wie Jack Lang, Bernard Tapie und Brice Lalonde. Noch immer ist es in Frankreich schwerer, Fraktionszwang gegen das alte „radikale“ Ideal der Honoratiorengesellschaft durchzusetzen. Auch heute greifen die Parteiapparate noch nicht so stark in die Kandidatenaufstellung, in die Ministerialbürokratie und das gesellschaftliche Leben ein wie bei uns. Das Regiment der „Enarchen“ (der an der Elitehochschule ENA Ausgebildeten, A.d.R.) in Politik, Wirtschaft und Kultur ist noch immer nicht voll durchproportioniert.

Eine Spätfolge gaullistischer Verfassung und Politik

Am beliebtesten war lange, wer zur „präsidentiellen Mehrheit“ gehört. Drirektwahl des Präsidenten, Plebiszit und Referendum waren gaullistische Mittel zur Eindämmung des Parteienstaats. Das Amt des Präsidenten der Republik, der als überparteilicher Schiedsrichter gedacht war, genoß deswegen höheres Ansehen und verlieh dem ganzen politischen System Legitimität und Prestige. Francois Mitterrand erfüllte diese Rolle mit wechselndem Erfolg. Aber unterdessen steht sein Stern kaum höher am politischen Firmament als der seiner First Lady, Edith Cresson, die als Minus-Premier in die Geschichte der Fünften Republik eingehen wird. Dieser Niedergang des Präsidentenamtes hat weniger mit der Person des gegenwärtigen Amtsinhabers zu tun als mit dem Absturz der Weltmacht, die er repräsentiert.

Das Ansehen der Politiker ist so tief im Keller wie nirgends sonst in klassischen Demokratien. Die frühere Doppelriege: zwei rechts (Gaullisten und Zentristen), zwei links (Sozialisten und Kommunisten) ist lange passé. Dennoch redet Le Pen weiter mit Erfolg von der „Viererbande“. Zur französischen Krankheit zählt, daß der Untergang des Rechts-Links-Schemas, das in der Pariser Nationalversammlung der 1830er Jahre geboren wurde, begrüßt wird, man andererseits die kleinen ideologischen Fronten vermißt und die graue Langeweile und öde Durchschnittlichkeit des politischen Alltags bejammert. Die Sozialisten können machen, was sie wollen; wenn sie ihrem Namen Ehre machen, ist das Publikum genau so „enttäuscht“, wie wenn sie ihn ablegten. Ein Grundmechanismus parlamentarischer Systeme funktioniert nicht mehr: Der Wechsel ist überfällig, doch der Übergang von Regierung und Opposition bringt ihn nicht. Das ist kein Einzelfall; auch in Washington, London und Bonn glaubt kaum jemand, daß die Opposition es besser macht. Das schafft Raum für andere.

Die Ökologisten sind aus ihrer strukturellen Marginalität herausgetreten, auch wenn man sie per Mehrheitswahlrecht noch aus den Parlamenten fernhält. Am besten aber mobilisiert Le Pen die erste französische Volkspartei, die „Enttäuschten“ und Unzufriedenen. Er bringt das Kunststück fertig, im politischen System und draußen zu sein. Sein Thema: Immigration ist mittlerweile auch beim Publikum ganz oben. Aber Hauptquelle seines Erfolgs ist das simple Ressentiment gegen „die da oben“. Von der Boulanger-Krise im vorigen Jahrhundert bis zum Poujadismus der fünfziger Jahre, bei dem Le Pen in die Lehre ging, ergreift es Frankreich in regelmäßigen Abständen.

Doch ist dieser zyklische Extremismus längst internalisiert und in eine negative Politisierung auf Dauer umgekippt. Der (potentielle) Nicht- Wähler kehrt in die Arena zurück. Aus „Exit“ wird wieder „Voice“ (Albert Hirschman), und Wahlen wirken wie politische Handkantenschläge. Zwischendurch greift Parteien- und Politikerschelte um sich wie Ladendiebstahl, Trunkenheit am Steuer und Versicherungsbetrug. Solche Tiraden reden die Demokratie um Kopf und Kragen und bahnen Le Pen und seinesgleichen den Weg. Und seine Gegner quasseln mit: was jene Stadien und Talkshows verkünden, kann man, etwas gebildeter natürlich, auch im Uni-Seminar, am alternativen Stammtisch, in den oberen Etagen des Managements und in Zeitungsredaktionen zu hören bekommen: Polktik ist schlecht, also bombardiert die Hauptquartiere von Washington bis Warschau! Von Parteipolitikern einzig zu erwarten, daß sie ihren Job, speziell Opposition vernünftig machen, reicht als Kritikmaßstab längst nicht mehr aus. Unter einer „Krise des Politischen“ tut es keiner mehr, und genau darin besteht warscheinlich die Krise, unter anderem wenn Frankreich hustet, hat Europa die Grippe. Es besteht akute Ansteckungsgefahr. Claus Leggewie

Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen