Aufstand der Kader

Rund um Jelzin tobt der Generationenkonflikt  ■ VON BORIS SCHUMATSKY

Von den der Reihe nach sterbenden senilen Patriarchen im Kreml erzählte man während der 80er Jahre folgenden Witz: „'Tass‘ berichtet: Heute um neun Uhr, nach schwerer Krankheit, nahm der Generalsekretär des ZK der KPdSU, der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, ohne wieder zur Besinnung zu kommen, seine Amtsgeschäfte auf.“ Mit Gorbatschow schien die Zeit der kommunistischen Gerontokratie glücklich vorbei zu sein. Doch jetzt beginnt das Alter wieder eine bemerkenswerte Rolle zu spielen: Zwei Gruppierungen in der heutigen Regierung, die miteinander um Boris Jelzins Wohlwollen kämpfen, unterscheiden sich in erster Linie nicht durch ihre Politik, sondern einfach durch ihr Alter. Die fünfzig- oder sechzigjährigen Politiker, ehemalige Kommunisten, fühlen sich sehr beleidigt, weil Jelzin seine „Regierung der radikalen Reformen“ fast ausschließlich mit selbstbewußten jüngeren Leuten gebildet hat.

Der Sprecher des russischen Parlaments, Ruslan Khasbulatow, spricht denn auch schlicht von „diesen Jungs“. Auch Gorbatschow hatte den dreißigjährigen Verfassern des berühmten wirtschaftlichen Erneuerungsprogramms „500 Tage“ nicht vertrauen können. Neulich wären diese 500 Tage übrigens ausgelaufen, hätte der letzte Präsident der UdSSR nicht gesagt: „Was Sie vorschlagen, finde ich sehr überzeugend. Aber sind Sie nicht zu jung?“

Gorbatschows Entscheidung entsprach ganz der traditionellen Mentalität der russischen und sowjetischen Bürokratie. Die gab immer dem Alter und nicht etwa dem Talent oder der Ausbildung den Vorzug. Auch Boris Jelzin zögerte einen ganzen Monat lang, bevor mit dieser alten Tradition zu brechen begann. Es ging ihm in erster Linie nicht um die Freigabe der Preise und die damit verbundenen sozialen Probleme — da gab es sowieso keinen anderen Weg. Gerade der Verstoß gegen die Subordination, gegen die bürokratischen Spielregeln, um den Verzicht auf das konservative Machtmodell, das sich auf die Autorität des Alters und militärische „Männlichkeits“- Werte stützte, stand im Zentrum. Diese Ehrfurcht vor dem Alter war nicht nur den bürokratischen „Organen der Sowjetmacht“ eigen, sondern bestimmte auch die Sowjetarmee. Jelzins Vize General Ruschkoj kann gerade deswegen dessen Verzicht auf Elemente der Sowjetmacht nicht begreifen, geschweige denn unterstützen; auch für ihn sind die Mitglieder des neuen Kabinetts auch „Jungs“, keine richtigen Männer, ergo auch keine Staatsmänner.

Initiationsriten gleich

Von der alten politischen Elite werden die jungen Ökonomen in der Tat wie die rechtlosen jungen Menschen in primitiven patriarchalischen Stämmen behandelt, die die Initiation — die sie erst zum richtigen Mann macht — noch nicht hinter sich haben. Ruslan Khasbulatow verhält sich eher wie das Oberhaupt eines Ältestenrates und nicht wie der Sprecher eines modernen Parlaments. Ständig betont er die Altersunterschiede und setzt sie gleich mit Subordination. Die Jungen werden beschimpft — kürzlich nannte er einen linksradikalen Abgeordneten einfach „Petka“, so nennt man nur Kinder. Die orthodoxen kommunistischen Parteifunktionäre noch am Anfang der Perestroika hatten diese Ältestenrats-Mentalität ganz plump verkörpert, indem sie die aufsteigenden „Demokraten“ tadelten, sie hätten nicht beim Militär gedient. In der sowjetischen Gesellschaft war der Militärdienst die Initiation. Die frisch einberufenen Rekruten unterstehen beim Militär einem System der Erniedrigungen und Quälereien, das in der Tat sehr stark den oft schmerzlichen Initiationsriten gleicht.

Altgediente Soldaten, die sich wie bei den vorchristlichen slawischen Stämmen „Djedi“, „Großväter“, nennen, behandeln die neuangekommenen Rekruten, die „Jungs“, wie Leibeigene. Sie beuten sie aus, erniedrigen und verprügeln sie, lassen sie hungern und nicht schlafen. Als letzte Stufe droht dann Vergewaltigung. Diese mit Methode und Bedacht inszenierte Brutalität nennen die „Großväter“ sehr trefflich „Erziehung“. Sie sagen: „Wir machen aus dem ,Jüngling‘ einen richtigen Mann.“ Von den offiziellen Instanzen wird diese Macht der „Großväter“ benutzt und geradezu kultiviert. Ein Beamter im russischen Parlament, ehemaliger Sowjetoffizier, drückte dies am deutlichsten aus. Als man ihn bat, einem Rekruten zu helfen, der das System der Erniedrigungen nicht mehr aushielt, meinte er: „So einer darf nicht heiraten.“ Für ihn war dieser Rekrut also kein Mann und auch kein „Sowjetmensch“. Denn die militärische „Erziehung“ erfüllte in der Sowjetunion die Rolle der Sozialisierung der gesamten männlichen Bevölkerung, sie formte den gehorsamen Sowjetbürger und das Mitglied des sowjetischen Kollektivs. Die „nicht statutengemäßen Beziehungen“ beim Militär waren ein wichtiger Bestandteil der Sowjetmacht. Das „Armeekollektiv“ (Lieblingswort der Politoffiziere, dessen sich auch Vizepräsident Ruschkoj sehr gerne bedient) sorgt für die Disziplin.

Großväterchen Boris?

Diese Funktion erfüllten die Kollektive überall, nicht nur beim Militär, auch im Gefängnis, in der Schule oder im Betrieb. Die Gewalt, die das sowjetische Kollektiv durchzieht und die dieses Kollektiv auch selbst produziert, ist nicht nur die Kehrseite, sondern gerade die Basis, die eigentliche Grundlage der Sowjetmacht. Das Kollektiv wird vom sowjetischen System als einer der effektivsten Machtmechanismen eingesetzt. Gleichzeitig jedoch sind die sowjetischen Armee-, Bauern- oder beispielweise Hochschulkollektive nur die Überreste der totalitären Institution der patriarchalischen russischen „Obschtschina“, der Bauerngemeinde, der größten konservativen Kraft in der ganzen russischen Geschichte, die immer alle revolutionären Impulse hemmte und die entstehende Sowjetmacht prägte.

Es ist deswegen kein Wunder, daß auch die heutigen konservativen Politiker wie Ruschkoj und Khasbulatow immer für sogenannte „Arbeitskollektive“ plädieren — die vielgelobte „Grundlage der sozialistischen Demokratie“. Im Namen dieser Kollektive der Werktätigen ruft jetzt Ruschkoj zum „ökonomischen“ Ausnahmezustand auf — wahrscheinlich mit „ökonomischer“ Polizeistunde und „ökonomischen“ Panzern auf der Straße. Weil es nach Ruschkoj um den Kampf gegen die „Politik des ökonomischen Genozids gegen das eigene Volk“ geht, das die „inkompetente“ (lies: zu junge) Regierung betreibt. Das Weltbild der alten „Kader“ ist für immer durch militärisches Statusdenken geprägt.

Für Ruschkoj ist Boris Jelzin der „Großvater“ aller „Großväter“. Von einem Journalisten befragt, ob er Jelzin duze, antwortete Ruschkoj empört: „Wie könnte ich? Er ist ja älter als ich...“ Und sofort korrigierte er sich: „Er ist ja der erste russische Präsident, vom ganzen Volk gewählt...“ Gleich darauf erinnerte Ruschkoj, daß er selbst ja ebenso gewählt wurde und antwortete endlich ganz offen: „Wissen Sie, bei uns in der Armee ist es nicht üblich, den Vorgesetzten zu duzen.“

Gleichzeitig ist er offensichtlich dennoch stolz, daß Jelzin „du“ zu ihm sagt. Neulich erzählte er in einem Fernsehinterview ganz begeistert: „Der Präsident sagte mir: ,Nimm die Stenogramme des Kongresses der Farmer, studier' alles und schau, welche Forderungen du erfüllen kannst, hilf der Landwirtschaft mit dem Geld, mit der neuen Technik aus dem militärisch-industriellen Komplex...‘“ Der brave General begriff zuerst nicht, was diese neue „Ernennung“ bedeutete: Diese hoffnungslose Branche der Volkswirtschaft wurde immer von den Meistern der kommunistischen Intrige benutzt, um die Kariere allzu eifriger Genossen zu stoppen — wie bei Gorbatschows Opponenten, dem einst mächtigsten Konservativen und jetzt schon vergessenen Ligatschow. Zweifellos ist auch Jelzin der Meister der Intrige. Aber ist auch er ein „Großvater“?

Auf jeden Fall schufen ihm die Medien ein solches Image, und der Präsident macht nichts, um dieses Image des impulsiven Herrschers zu zerstören. Wenn man aber nicht nur berücksichtigt, was und wie Jelzin redet, sondern was er auch tut, dann hat dieser Zar Boris dem feinen Gorbi eines voraus: den Mut, mit der alten Autorität zu brechen. Kein Wunder also, daß mittlerweile die orthodoxen kommunistischen Abgeordneten des entmachteten sowjetischen „Obersten Rates“, die die russischen Parlamentarier schlicht „unsere jüngeren Kollegen“ nennen, nach Revanche trachten. Boris Jelzin bleibt trotz des Images vom russischen Bären die einzige Hoffnung Rußlands. Die Sowjetmacht, deren kollektivistische Grundlagen tief in der russischen Geschichte verwurzelt sind, muß endlich besiegt, der Kreml darf nie wieder zum luxuriösesten Altersheim der Welt werden.