: Mit Wu-Wei den Feind schlagen
■ In Bremen immer beliebter: Wing-Tsun, die Känguruh-Variante von Kung-Fu
So adrett haben Wing-Tsun-Sparringspartner miteinander zu tun: immer am Gegner bleiben.
Von draußen, durchs Fenster, sieht's aus, als würden australische Riesenkänguruhs boxen. Drinnen dampft der Schweiß. Im Gymnastikraum in der Grundstraße trainiert eine Gruppe Männer und Frauen einen Sport, der aus China kommt. Das blitzschnelle Stoßen und Treten der Paare — jeweils ein Angreifer
Selbstverteidigung mit „klebenden Armen“
und ein Verteidiger — gehört zur großen Familie der Kung-Fu- Kampfkünste und heißt Wing Tsun.
In der VR China abgeschafft, kümmert Wing Tsun in Hongkong vor sich hin, hat aber in Europa als Selbstverteidigungs- Kampfsport erstaunliche Zuwachsraten. Effektiv und anpassungsfähig wie er ist, zieht er auch Frauen an.
Das „Känguruh-Boxen“ heißt in Wahrheit „Chi-Sao“, was „klebende Arme“ bedeutet: der Verteidiger versucht, fortwährend in Kontakt mit den Händen des Angreifenden zu bleiben, wie angeklebt.
„Der Angreifer gibt mir die Reflexe für meine Sicherheit“, erläutert Hartmut Gebelein, seit vier Jahren Trainer in Bremen mit „2. Lehrergrad“. Und treibt mit ununterbrochenen Schlägen und Tritten einen bemitleidenswerten Aggressor durch die Halle. Die Rollenverteilung ist nicht immer ganz deutlich. Klar ist, daß Wing Tsun keineswegs defensiv ist wie etwa das japanische Aikido, wo
hierhin bitte das
Foto mit den
zwei Kämpfenden,
auf dem man beide
von der Seite sieht
der Verteidiger ohne Angriffspower zur Untätigkeit verdammt ist.
Wing Tsun ist für den Straßenkampf da, deshalb ist ein Bestandteil des Trainings die Auseinandersetzung mit allen denkbaren Schlägen und Stößen von feindlichen Karatefüßen oder Boxerfäusten. Ziel: Unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel den Angriff abwehren, wobei beliebteste Ziele der Hals („hier bei'e Aorta“) und die Genitalien sind („Hast du Tiefschutz an?“).
Mit Bruce Lee will Gebelein nicht zu tun haben. Früher hieß es „Wing-Tsun-Kung-Fu“. Nachdem Kung-Fu (gleich „harte Arbeit“) im Film Furore machte, geht die europäische Wing-Tsun- Organisation auf Distanz. Ausdrücklich ist die Teilnahme von „Zuhältern und Kriminellen“ verboten. „Allzu Wilde und Aggressive unterrichte ich nicht,“ sagt Gebelein, „das Training soll Spaß machen.“
Da war mal einer, der wollte wissen, wo er steht, „der hat den kürzeren gezogen“, umschreibt Gebelein das Resultat. Ansonsten bleibt der Körper in der Regel heile: „Mal 'ne Lippe, in vier Jahren zwei Platzwunden“, da ist Fensterputzen gefährlicher.
Diverse Utensilien schützen: Boxhandschuhe, Genitalschutz, Wadenschutz. Die „Dienstkleidung“ ist eher unspektakulär: dunkle Trainingshose und weißes T-Shirt. Die „Graduierung“ der Schüler und Meister erkennt man
an einem Blümchen, in Brusthöhe angenäht. Grünes Blümchen: AnfängerIn. Zwölf „Schülergrade“ gibt es, den zehnten erreicht man
hierhin die Kämpfer
nach etwa drei Jahren.
Die TeilnehmerInnen kommen von anderen fernöstlichen Kampfsport-Arten, von Tai-Chi, wegen „schlechter Erfahrungen“, aus Angst vor der Straße. „Wenn sie da gegen haut, reicht es ihm erst mal“: Gebelein weiß, was Frauen wünschen.
Stimmung kommt auf, wenn Könner sich mit nackten Fäusten prügeln. Dann klatscht die Haut, dem Zuschauer schwant Übles, aber hinterher wird gelacht. „Ich will den geraden Weg“: Hartmut
Von Lao-Tse haben sie gelernt, ohne Absicht zu handeln. Nur so wird man schnell
Gebelein beschreibt die Stoßrichtung. „Die Zeit zum Reagieren beträgt eine Zehntelsekunde, zu wenig für den Umweg über den Kopf.“ Von Lao-Tse haben die Wing-Tsun-Kämpfer das „Wu- Wei“ gelernt, ohne Absicht zu handeln. Nur so ist man schnell.
Konfuzius, Buddha, Lao-Tse: so groß die Paten, so verkümmert ihr geistiger Einfluß auf hiesiges Wing-Tsun. Beim Training gibt es zu Beginn ein paar Atem- und Lockerungsübungen. Das Verhältnis Meditation zu Kampf im Wing-Tsun veranschlagt Gebelein mit Eins zu Neun.
Laut Gebelein gibt es allein in Bremen 250 Wing-Tsun-KämpferInnen, davon 180 in seiner „Schule“, 20 Prozent Frauen. Ab Jahresmitte hat die Schule ein eigenes Haus, in Findorff; dann gibt es auch Kurse in Escrima, philipinischem Stockkampf. Pikant am Rand: Die neuen Räume liegen in der ehemaligen Findorffer Freibank-Schlachterei. Bus
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