Fragen an fotografische Bilder

■ Gewollte Unschärfe, »subjektive« Fotografie: Ein Versuch, in Potsdam zehn Jahre deutsche Fotografie zu dokumentieren

Zehn Jahre habe er versucht, in Berlin eine Ausstellung zu machen, so der französische Fotohistoriker Christian Bouqueret, der Organisator der derzeit in Potsdam zu sehenden Ausstellung Surgence. Ob der Ignoranz der Berliner Museen gegenüber dem Medium Fotografie müssen die Hauptstädter nun nach Potsdam reisen, wenn sie sich einen Überblick über das letzte Jahrzehnt der deutschen Fotokunst verschaffen wollen.

Da heute bekanntlich so gut wie alles Kunst sein kann, ist die Feststellung, daß es sich bei den hier ausgestellten Arbeiten um Fotografie als Kunst, handelt, zunächst wenig provozierend. Was aber macht Fotografie zur Kunst? Bouqueret beantwortet diese Frage anhand von insgesamt zwölf deutschen Fotokünstlern aus Ost und West. Beschränkt hat er sich in seiner Auswahl auf die Generation der nach 1950 Geborenen.

Im großen und ganzen lassen sich innerhalb der deutschen Fotoszene zwei Strömungen unterscheiden, die die Ausstellung auch präsentiert. Es handelt sich aber nicht etwa um (Konzept-)Kunst mit Fotografie, sondern um das autonome Foto beziehungsweise die Fotoserie.

Die beiden fotografischen Haltungen könnte man so benennen: Sabotage und Dokumentation. Bouqueret spricht in diesem Zusammenhang von Prä- beziehungsweise Postvisualisten. Die eine Haltung findet ihr Bild beziehungsweise ihr Motiv in der Wirklichkeit — also schon vor der fotografischen Aufnahme —, und bei der anderen entsteht das Bild erst unter den Händen des Künstlers.

Die Saboteure — das sind die Schüler der Essener Schule. Ihr geistiger Lehrer: Otto Steinert. Seine Ideologie: die »subjektive Fotografie«. Entwickelt wurde dieses schulemachende Konzept von Steinert, und zwar in den fünfziger Jahren in Essen. Es besagt schlicht und einfach, daß das eigentlich Interessante an der Fotografie die Möglichkeit ist, persönliche — also subjektive — Aussagen zu formulieren.

Dazu aber muß man das Programm des technischen Apparats, also das der Kamera, wie den ganzen »objektiven« Prozeß von der Aufnahme bis zur Entwicklung sabotieren. Das Ergebnis sieht dann beispielsweise bei Dörte Eissfeldt wie folgt aus: Ihre Fotos führen vor, wie aus vier immer gleichen Aufnahmen eines Würfels — er heißt bei ihr Generator — durch die Manipulation bei der Entwicklung des Abzugs immer andere Bilder entstehen.

Eine andere simple Methode, wie man den »objektiven« Abbildungscharakter der Fotografie unterlaufen kann, führen Gosbert Adler und Thomas Florschütz vor: sie arbeiten mit dem ungewöhnlichen Ausschnitt. Bei Florschütz sind es extreme Nahaufnahmen eines nackten Körpers, der relativ unscharf fotografiert wird. Ein Stück Haut verwandelt sich so zu einer Terra incognita, in der sich das Auge verliert. Adlers Motive dagegen sind so banal wie nur irgendmöglich.

Es ist beinahe unmöglich, den Inhalt seiner Fotografien zu beschreiben. Ein halb verdeckter Kanaldeckel und daneben etwas Sand. Die schwarzweißen Abzüge sollen keine visuellen Fundstücke einer Baustelle sein. Man fragt sich bloß, was sie stattdessen zeigen. Offensichtlich geht es Adler nicht in erster Linie um die Aufzeichnung einer äußeren Wirklichkeit, sondern vielmehr um einen Ausdruck, der jenseits des Sichtbaren liegt: einerseits als innere Vision des Künstlers, andererseits durch die Erzeugung von Assoziation im Betrachter.

Volker Heinze, auf dessen Fotos durch gewollte Unschärfe und viel Dunkel außer Schemen kaum noch etwas zu sehen ist, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er seine farbige Serie Ahnungen nennt. Fast alles an diesen Bildern ist Stimmung, Atmosphäre, Assoziation, aber fast nichts ist für den Betrachter auf den Begriff zu bringen. Um so mehr genießt man es, die eigene Phantasie spielen zu lassen.

Die Dokumentaristen der Düsseldorfer Schule dagegen schlagen den umgekehrten Weg ein. Lehrer, Vorbild und Archetyp dieser Richtung sind Hilla und Bernd Becher aus Düsseldorf. Seltsamerweise erreicht diese Gruppe mit ganz anderen Mitteln allerdings oft den gleichen Effekt, wie ich ihn gerade beschrieben habe: Gerade weil sie sich in ihrem Bemühen um eine interpretationslose Gestaltung ganz zurücknehmen, mobilisieren sie die Phantasie des Betrachters.

Diesmal aber überläßt man sich nicht dem Strom von Assoziationen, sondern man möchte mehr wissen über das, was man dort auf dem Bild vermeintlich in aller Deutlichkeit und Neutralität sieht. Die Neugier, die diese Bilder erzeugen, richtet sich beispielsweise auf die Russische Nacht, einer Serie von Rudolf Schäfer. Was passiert dort auf der Blutopferstätte, die wir auf seinem Foto in der ganzen Schärfe der Mittagssonne vorgeführt bekommen? Die Fotografie bezeugt, daß wirklich Blut auf den Stein geflossen sein muß. Man gerät ins Spekulieren: Handelt es sich um die Spuren von satanischen Ritualen oder von Schlachtopfern?

Oder: wer ist eigentlich das hübsche Mädchen, was macht sie, wo und wie lebt dieses Geschöpf, das Thomas Ruff uns als Portrait vorstellt? Es ist ein Bild aus einer Serie mit Portraits einer jungen Generation: schattenlos ausgeleuchtete Brustbilder, frontal vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen. Obwohl das Mädchen von Ruff exakt abgelichtet, also das Thema des Bildes klar zu erkennen ist, bleiben alle Fragen offen. So gerät die Arbeit Ruffs zur Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums selbst.

Der Ausflug nach Potsdam wirft Fragen auf — aber er lohnt sich auch dann, wenn nicht alle Fragen beantwortet werden. Ronald Berg

Surgence, Deutsche Fotobilder 1984-1991. Altes Rathaus Potsdam, Am Alten Markt, bis 31.3.