Die Räuber

Erschröckliche, aber wahre Geschichte der deutschen Gauner 1790 bis 1815  ■ Von Martin Halter

Stehlen, morden, huren, balgen/ Heißt bei uns nur die Zeit zerstreun/ Morgen hangen wir am Galgen/ Drum laßt uns heute lustig sein“, gröhlen Schillers Räuber im finsteren Forst. So edel zerknirscht wie Karl Moor, so lustig wie Hebels Zundelheiner, so süßliche Liebhaber wie der Rinaldo Rinaldini von Goethes Schwager Vulpius waren die Schnapphähne, Wegelagerer und Spitzbuben des ausgehenden 18.Jahrhunderts nun freilich nicht. Die deutschen Räuber waren weder tintenklecksende Kraftmeier noch Robin Hoods, und auch nicht, wie in Schillers Version vom „Sonnenwirtle“, „Verbrecher aus verlorener Ehre“. Wer alle Brücken zur bürgerlichen Gesellschaft hinter sich abbrach, hatte dort meist noch nie einen Fuß auf den Boden bekommen.

In einem Ulmer Gaunerpatent von 1751 werden die „gefährlichen Klassen“ näher spezifiziert: „Ausländische Bettler und Vaganten, Deserteure und abgedankte Soldaten, Hausierer, fahrende Schüler, Leier-, Sack- und andere Pfeifer, Hackbrettler, Riemenstecher, Glückshäfener, arme Geistliche, Pilger, Konvertiten, herumziehende Pfannenflicker, Musikanten und Spielleute“ — der Abschaum der Standesgesellschaft, der nach jedem Krieg zur Sintflut anschwoll. Hinzu kamen die „unehrlichen Leute“, Parias von alters her: Bordellwirte und Prostituierte, Scharfrichter und Abdecker, Zigeuner und schließlich Juden, die sowohl als Täter wie als Opfer überproportional häufig in den „aktenmäßigen Relationen“, Moritaten und erbaulichen Verbrecherbiographien jener Zeit auftauchen.

Mehr Mohre als Sohre

Das armselige, vogelfreie Nomadenleben der halbprofessionellen Räuber war alles andere als romantisch. „Dieses ist ein Leben, gegen welches der Tod, auch ein bitterer, eine Wohltat ist“, gibt selbst der sittenstrenge Historiker des Bayerischen Hiesel zu, der als gefürchteter Wildschütz einen vergleichsweise barocken Lebensstil pflegte. Die Rotwelsch-Sentenz „Mehr Mohre als Sohre“ bezeichnet illusionslos den Fluch der bösen Taten: mehr Angst als Beute. Der dazumals noch schwache Arm des Gesetzes hätte sich noch leicht ertragen lassen, und selbst die ohne viel Federlesens verhängte Vierteilung oder das Rädern auf kunstreichen „Zergliederungsmaschinen“ konnten die Malefizianten nicht schrecken. Zwar gab es unwegsame Landstriche und, dank korrupter Behörden, auch Spitzbubennester (wie das niederrheinische Mersen, Eckardsroth im Spessart und Liebshausen im Hunsrück), wo sich die Gejagten einigermaßen frei bewegen konnten. Aber ohne Dach überm Kopf, mit einer vielköpfigen Familie — Frau, „Beischläferinnen“, Kinder, Hunde — unterwegs, mußten die Räuber das täglich Brot oft mit mühsamer Beutelschneiderei auf Märkten zusammenstehlen und ihr Quartier im Wald oder in schäbigen „Kochemer Beyes“ aufschlagen, wie die Räuberherbergen im Rotwelsch hießen. Von den „Scherfenspielern“ (Hehlern) bekamen sie nur einen Bruchteil der Beute ausbezahlt, und der war in den „Pennen“ (Schenken) und syphilitischen Hurenhäusern schnell verpraßt. Die einsam gelegenen Gehöfte, Pfarrhäuser und Mühlen beiderseits des Rheins, an denen sie ihr eher geringes Mütlein kühlten, wurden von ihren Bewohnern bis aufs Messer verteidigt, und wer sich in die Dörfer wagte, mußte damit rechnen, von aufgebrachten Bauern tagelang gehetzt zu werden. Solange ein Schinderhannes reiche Juden plünderte und sich als „Franzosenfresser“ profilierte, mochten die Nachbarn stillhalten; aber wenn es Christenmenschen traf, kannten weder Bürger noch Richter Gnade. Jeder gelungene Coup brachte die Räuber dem Galgen nur um so näher. „Mein Ruhm erscholl immer mehr und mehr, allein dies zog auch meinen Untergang nach sich“, erkannte das „größte Räubergenie seiner Zeit“ (so Gustav Radbruch in seiner Geschichte des Verbrechens), der kühne, grausame „Fetzer“, am Ende seiner Laufbahn. „Kein großer Streich wurde ausgeführt, wo man mich nicht herbeiwünschte, und war ich dabei, so ging jeder voll Zuversicht mit“ — Hochmut kam vor dem Fallbeil.

Nicht lange gefackelt

Unter diesen Umständen durften auch die Räuber bei ihrem Werk nicht lange fackeln und heimlichtun. Jähzornige Berserker wie der 1787 hingerichtete Zigeuner Hannikel schlitzten Schwangeren die Bäuche auf oder vierteilten brave Gastwirte, die ihren Zapfhahn verteidigten. Von der Brabanter Bande weiß der Kölner Ankläger Anton Keil zu vermelden, wie sie „Mädchen mit glühenden Zangen zwickten, unschuldigen Kindern, die ihnen die kleinen Hände wehmütig entgegenstreckten, die Ohren herunter hieben, wie sie Greise an Kaminen lebendig aufhängten, wie sie Mann und Weib zerfetzten“. Mordbrenner wie der „schöne Karl“ oder der neunfache Mörder Horst („Ich will nicht eher von dannen gehen/ Ich muß Berlin in Asche sehen“, reimte er in seinem pyromanischen Mordbrennerlied) „flaggerten“ ganze Städte ab, um im allgemeinen Rennen, Retten und Flüchten ihr abscheuliches Werk desto ungestörter verrichten zu können. „Wütende Rachsucht, boshafte Tücke, hämische Freude am Elend anderer, selbst der Kameraden, blutige Grausamkeit und ruchlose Liederlichkeit“ nennt Friedrich C.B. Avé-Lallemant, Autor einer klassischen Studie über Das deutsche Gaunertum (1858), als Charaktereigenschaften der deutschen Verbrecher. Der gelernte Metzger Bruttig aus der Bande des Schinderhannes prahlte, es sei ihm „gleichviel, ob ich einen Menschenkopf oder einen Kalbskopf abschneide“. Nur wenige — der bayerische Hiesel gehört dazu — brachten freilich den Mut auf, selbst weit überlegenen Militärkommandos regelrechte Feuergefechte zu liefern; dazu taugten ihre kläglichen Waffen — Säbel, Schrotflinten und oft versagende Terzerolen — auch gar nicht.

In der hohen Zeit der deutschen Räuberbanden, zwischen 1790 und 1815, war der vom „zierlichen Schränker“ verübte heimliche Einbruch eher die Ausnahme. Die offenen Raubzüge — im Jargon: „Chassne malochnen“ (Hochzeitmachen) oder „Masematten“ — verliefen fast alle nach demselben Schema. Die Paten und ehrwürdigen Patriarchen — etwa Jacob Moyses oder Abraham Picard („Kinder, wenn's Mitternacht wird, bin ich König“), das Haupt der Brabanter Bande — zogen aus dem Hintergrund die Fäden. „Anbringer“ — oft waren es Hausierer, Kesselflicker oder Landstreicher — baldowerten lohnende Objekte aus. Dann — in einer mondlosen Nacht, meist mittwochs oder samstags — trafen sich ein paar Dutzend Räuber im Wald und zogen von dort mit geschwärzten Gesichtern und unter lautem Gebrüll, Schießen und Singen — beliebt war nämlich die Marseillaise, die den Verdacht auf französische Soldaten lenkte — vor das Haus, nicht ohne vorher die Kirchentür zu verbarrikadieren, um das Läuten der Sturmglocken zu verhindern. Lehrlinge und unsichere Kanonisten, die „Jungens“, wurden von den „Veteranen“ in die Mitte genommen, damit sie nicht etwa feige reißaus nähmen; die Kaltblütigsten und Fähigsten standen Schmiere. Der — gewählte — „General“, das Brecheisen als Marschallstab in der Hand, mußte vorangehen; setzte es dabei auch Püffe und Schußwunden für ihn, so durfte er sich dafür mit mehr Beute trösten — was dann wieder nicht selten Anlaß zu Unterschlagungen und Schlägereien gab. Das Messer zwischen den Zähnen, rammten die Vertreter der „forcierten Methode“ nun die Tür mit dem „Rennbaum“ ein, fesselten und knebelten alle Bewohner und folterten sie so lange, bis sie — das Rösten der Fußsohlen war noch eines der harmloseren Auskunftsmittel — die Verstecke ihrer Habseligkeiten preisgaben. Schinken und Branntwein wurden oft noch an Ort und Stelle verzehrt (nicht ohne ein Häufchen Kot, die unter Polizeimännern als „mumia spiritualis“ bekannte Losung, zu hinterlassen); die übrige Beute — Kleider, Vieh, Schmuck, seltener auch Bargeld oder Wechsel — wurde oft noch in derselben Nacht an Hehler verhökert, so daß die Beraubten, wenn sie anderntags auf den Diebsmärkten ihr Eigentum wiedersahen, an Spuk und Hexerei glaubten; die Mersener etwa, die hundert Jahre die Gegend zwischen Maas und Rhein unsicher machten, hießen im abergläubischen Volksmund „Bocksreiter“.

Gemeine Sackgreifer

Die Spitznamen der Spitzbuben sprechen für sich: In des Hölzerlips Bande tummelten sich Schnapphähne wie Wuttwuttwuttt und der krumme Hannfriedel; in der Mersener (Juden-)Bande waren Leibchen Schloß und Abraham Langnase, Schlaumännchen, Hampelhohlmich und Schlimmchen zugange. Die 1798 ausgehobene Krefelder Bande konnte auf den scheelen Jickjack und den stets betrunkenen Schicker Nogumke, auf Helmes von der Schiefbahn und Schalk aus dem Büttchen zählen. Auch die Fachterminologie zeugt von einem differenzierten Einfallsreichtum: Da gab es neben den gemeinen Sackgreifern und Beutelschneidern „Scheinspringer“ und „Rochemer“ (Tag- und Nachtdiebe), Schottenfeller (Marktdiebe), Merammenmoosmelochner (Falschmünzer) und Staatsfelinger (Betrüger und Quacksalber); ein falscher Paß heißt im Jenischen „linke Flebbe“. Und was Nicole kürzlich mit Vater Graf machte, „das Geltendmachen von Ansprüchen auf Abfindung angeblich geschwängerter Dappelschicksen“, nennt der „Entdeckte jüdische Baldowerer“ „Bilbulmachen“.

Zinken und Rotwelsch

Wenn die Fahrenden und Gauner auch keine Zunft waren, so bildeten sie doch eine wohlorganisierte Subkultur mit eigenen Zeichen („Zinken“), einer Sprache (vom Deutschen hat das Rotwelsch die Grammatik, vom Jiddischen das Vokabular) und einem Selbstbewußtsein, das sich im Gegensatz von „Kochemern“ oder „Kessen“ (Wissenden) und „Wittischen“ (Dummen) ausdrückte. Anders als in Frankreich oder England arbeiteten die deutschen Räuber nicht in festen, straff hierarchisierten Banden, sondern in eher losen Verbänden, die sich durch Flexibilität und hohe Fluktuation auszeichneten. Das machte sie weniger effektiv, aber auch schwerer faßbar: Im Département Var wurde einmal eine Räuberbande von einem Spitzel in ein vorher unterminiertes Haus gelockt und von der Gendarmerie mit Mann und Maus in die Luft gesprengt: 25 tote und 15 schwerverletzte Banditen blieben auf der Walstatt.

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Diesseits des Rheins gestaltete sich die Verfügung und Ergreifung der Räuber schwieriger. Einmal, weil sie meist auf politisch zersplittertem Terrain oder in dünn besiedelten Landstrichen (der Schwarzwald galt, noch vor Spessart und Hunsrück, als „Ganfer Medine“, Spitzbubenland) hausten. Vom Gesetz alleingelassen, taten Bauern und Wirte hier gut daran, sich Kompromissen oder auch Schutzgeldzahlungen nicht allzu sehr zu widersetzen. So konnte die bodenständige Schinderhannes-Bande beiderseits der Mosel wie ein Fisch im Wasser schwimmen: Man prahlte in Wirtshäusern mit seinen Taten, veranstaltete öffentliche Bälle, zu denen sich vorzüglich die weibliche Dorfjugend drängte, man versäumte keine Kirchweih; und wenn man schon einem Fremden die Gurgel durchschnitt, so ließ man doch Totenmessen lesen und betete noch am Tatort fünf Vaterunser.

Ohnmächtige Justiz

Von der weltlichen Gerechtigkeit war weniger zu fürchten als von Gott. Bevor Napoleon in Deutschland ein funktionierendes Justiz- und Polizeisystem etablierte, versahen gutmütige Hatschiere — meist altgediente Veteranen — lustlos ihren Ordnungsdienst; Kleinstaaterei, Korruption und Kompetenzgerangel verhinderten koordinierte Polizeiaktionen. Die Gefängnisse waren so löchrig, die Wärter so bestechlich, daß pfiffige Einbrcher auch leicht wieder ausbrechen konnten. Damian Hessel, das „Studentchen“, mußte 24 mal verhaftet werden, ehe man dem Entfesselungskünstler endlich den Garaus machen konnte.

Wohl gab es bis zur Französischen Revolution eine drakonische Justiz mit Folter und Rad. Aber die Kunst des Verhörs war ebenso unbekannt wie Fahndungen oder Indizienprozesse. Wer nicht gestand, war nicht schuldig und wurde gewöhnlich mit einer Tracht Prügel oder Brandzeichen über die Landesgrenze abgeschoben. Und in den neuen Geschworenengerichten saßen unerfahrene, verängstigte Schöffen, die von den gewitzten Gaunern ein ums andere Mal genarrt wurden.

So blieb das Räuber-und-Gendarm-Spiel einzelnen Idealisten überlassen, die ihre Arbeit, wenn nicht als Sport (wie der strenge „Malefitzgraf“ Schenk von Castell), so doch als heilige Pflicht und private Leidenschaft (wie der Oberamtmann Schäffer in Sulz am Neckar) betrieben. Unermüdlich sammelten die Pioniere der Kriminologie Gaunerlisten und -stammbäume und schrieben gewissenhafte Berichte, die nicht nur von viel fachmännischem Interesse am Verbrechen und psychologischer Hellsicht zeugen, sondern gelegentlich auch von aufkeimendem politischem Verständnis — wenigstens bei so scharfsinnigen Köpfen wie dem liberalen Strafrechtler Anselm von Feuerbach oder dem Mainzer Jakobiner Georg Friedrich Rebmann. Sie hielten sich Spitzel, kannten die Verstecke, Helfershelfer, Kniffe und Geheimsprachen der Spitzbuben oft besser als die Verbrecher selbst, deren verstocktes Leugnen sie in monatelangen Verhören mehr mit Schmeichelreden und Appellen an die kriminelle Eitelkeit als mit Drohungen und Moralpredigten zu brechen wußten. So tief drangen diese kernigen Polizeimänner dabei in die kriminelle Materie ein, daß sie ihre Schutzbefohlenen nachgerade eifersüchtig gegen Auslieferungsgesuche verteidigten und in ihren „actenmäßigen Nachrichten“ eine fast bis zur Komplizenschaft reichende Hochachtung durchschimmern lassen. „Ihre Anführer zeigen ein vollendetes Räubergenie“, rühmt etwa der Historiker der „Großen niederländischen Bande“, „ihre Pläne sind groß; ihre Räubereien werden nach einer äußerst künstlich ausgedachten Taktik unabweislich ausgeführt, unermeßlich ist ihre Beute.“

Noch befriedigender als die Hinrichtung reuiger Gauner scheint den Anklägern jedoch ihre Bekehrung und bürgerliche Besserung, wie sie Schäffer wiederholt gelang: Sein Konstanzer Hans verpfiff nicht nur 500 Gauner, sondern schrieb sogar ein kritisches Wörterbuch des Rotwelschen. Avé-Lallemant empfiehlt diese erstaunliche „Wiedergeburt“ als leuchtendes Vorbild für eine „wahrhaft christlich-deutsche Polizei“: „Der Gauner ist nicht unverbesserlich!“

Das Fallbeil dampfte

Solch schöne Humanität war aber rar in Zeiten, die wenig mit Resozialisation im Sinne hatten. Selbst auf Diebstahl oder Hehlerei konnte schon der Galgen stehen, und selten erging Gnade vor Recht. Im kleinen Rentamt Burghausen wurden binnen 28 Jahren 1.100 Todesurteile vollstreckt. Als der Schinderhannes 1803 für vergleichsweise harmlose Vergehen vor Tausenden gaffender Hinrichtungstouristen guillotiniert wurde, dampfte das Fallbeil schon vom Blut von neunzehn Genossen; die anderen Kumpane, darunter viele Frauen, wurden zu langjährigen Ketten- oder Galeerenstrafen verurteilt. Selbst besondere Aufklärer machten eher eine „idiote Schädelbildung“, Gottlosigkeit oder ausschweifende Sinnlichkeit als soziale Umstände für die kriminellen Karrieren verantwortlich: „Sie wurden von Gaunern geboren“, schreibt Ludwig Pfister in seiner Geschichte der Räuberbanden an beiden Ufern des Mains (1812) lakonisch, „zu Gaunern erzogen und lebten als Gauner.“

Vorzüglich die „tierisch wilde“ Geilheit der Männer und die „unersättliche Wollust“ ihrer Schicksen galten als Erbsünde. Mit Schaudern gedachten die Staatsanwälte namentlich der hexenhaften Buhlkünste der „Beischläferinnen“. War nicht das Sonnenwirtle trotz guter Anlagen auf die schiefe Bahn geraten, weil sein Mädchen Christina Schettinger, eine Metze natürlich, an einen anderen versprochen war? Der schwäbische Wirtssohn hatte sie noch auf dem Blutgerüst angefleht, den „blutschwitzenden Jesum“ anzurufen; allein sie blieb trotzig „in Wut gegen alle Menschen“ und Gott. Und übertrafen nicht weibliche Gaunerkoryphäen wie Gaßners Liesl und die Schleiferbärbel, auch wenn ihre Mutterliebe selbst hartherzige Häscher erweichen konnte, ihre „Kaffer“ oft an krimineller Energie?

Bänkellied-Sentimentalität

Die Geschichte des deutschen Räubertums, die Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz jetzt in einer dreibändigen Dokumentation zu entzaubern versucht haben, ist reich an Mythen und einer Bänkellied-Sentimentalität, die zuweilen ein versöhnlicheres Licht auf die Grausamkeiten werfen. Gewiß, nicht einmal der später so verzuckmayerte Schinderhannes (alias Curd Jürgens) war kein edler Rächer der Enterbten noch ein früher Arnachist; ihre Lebensumstände waren zu bedrückend, als daß die Räuber selektiv und selbstlos Rache nehmen und eine höhere Gerechtigkeit hätten üben können. Aber manchmal, schreibt der Historiker Eric Hobsbawm in Die Banditen, wird ein Brigant nicht trotz aller Angst und Abscheu, die seine Taten erregen, sondern eben darum zum vergötterten Helden und „Sozialrebellen“: als Selbsthelfer, der mit seiner Propaganda der Untat immerhin beweist, daß auch der Arme Schrecken verbreiten und sich so ein vielleicht kurzes, aber stolzes Leben ertrotzen kann. Deshalb konnten die Räuber, auch wenn sie weder edel noch tapfer waren, mit ihrer kecken Unbotmäßigkeit und ihrem magischen Nimbus durch wunderbare Fluchten und Legenden von ihrem ungezwungenen Leben hin und wieder eine gewisse Popularität erlangen; der „Hiesel“ Klostermayer hat heute noch einen Fanclub. „Gott erweckt und sendet uns, um die Geizigen und Reichen zu züchtigen“, prahlte das „Studentchen“ Hessel einmal, „wir sind eine Art Landplage, und wenn wir nicht wären, wozu brauchte man dann Richter?“

Wenn die klassischen Räuberbanden nach 1815 ausstarben, so ist dies weniger dem Eifer der Seelsorge und Henker zu danken als der Lernfähigkeit der Schränker und Masemattenmalochner, die ihre Profession den wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen höchst flexibel anzupassen wußten. Eisenbahn und Kreditwirtschaft, Industrialisierung und Versicherungen haben das vorkapitalistische Handwerk des Räubers zwar revolutioniert, aber, wie jedermann weiß, durchaus nicht ausgerottet.

Die kriminalhistorisch wichtigsten und erzählerisch reizvollsten der zahlreichen zeitgenössischen Biographien, aktenmäßigen Relationen, wahrhaften Romane und juristischen Gutachten, die das deutsche Räuberwesen um die Wende vom 18. zum 19.Jahrhundert dem Geist deutscher Polizei- und Christenmenschen abnötigten, haben Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz jetzt in einer dreibändigen illustrierten Sammlung Die deutschen Räuberbanden (Eichborn Verlag, 396S., 432S., 456S., Subskriptionspreis 168DM, ab 1.Juni 198DM) herausgegeben und — fleißig, aber leider nicht immer zureichend — kommentiert. Band1 versammelt „Die großen Räuber“ (Hiesel, Sonnenwirtle, Hannikel, Damian Hessel u.a.), Band2 „Die rheinischen Räuberbanden“ um Schinderhannes, Fetzer und die Picards. Band3 schließlich macht mit dem übrigen, eher zweitklassigen Gesindel „Von der Waterkant bis zu den Alpen“ bekannt, wozu vorzüglich der Mordbrenner Horst und der Schöne Karl rechnen, aber auch polizeiliche Miszellen etwa über „Die Tricks der Gauner in Frankfurt“ oder die phsyiognomische „Verbrecherbeschreibungskunst“ von G.L. Giese. mh