METAMORPHOSEN
: Wahrheit, Schuld und Recht

■ Mielke-Prozeß: Historienposse oder paradigmatische Tragödie einer Epoche?

Vorausgesetzt, der Publikumsgeschmack spielt mit, kann sich ein Ladenhüter zur antiquarischen Preziose verwandeln, wird ein Lückenfüller zum Hit. Gewollt gelingen solche Metamorphosen fast nie. Im Fall des stark angestaubten Mielke-Verfahrens schien das ausgeschlossen. Doch, oh Wunder: Unter den ausdauernden, manchmal etwas fahrigen Händen der 23. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin gewinnt selbst dieser Prozeß sanft glänzende Patina— einen noch unbestimmten Reiz des Klassischen.

Alle Einstellungsanträge der Verteidigung sind gescheitert, alle Versuche der 'taz‘, das Verfahren als judikatorische Nazi-Altlast schnell — vielleicht zu schnell — zu entsorgen, am stadtbekannten Beharrungsvermögen der 23. Strafkammer abgeprallt. Dem Publikum blieb gar nichts anderes übrig, als die Darbietung entweder schnaubend zu verlassen oder sich murrend zu arrangieren. Und siehe da: Die Sache macht Spaß; selbst der störrische Angeklagte ist nachhaltig gelockert.

Eine Rückbesinnung tut dringend not

Wenn heute die Realität antikommunistischer Schauprozesse der Jahre 1933/34 öffentlich thematisiert wird, dann auch wegen des derzeitigen Mielke-Verfahrens. Ein solcher Rückblick in die deutsche Polizei- und Justizgeschichte — und er wird fortgesetzt werden müssen! — findet statt, weil das Gericht das Verfahren nicht einfach per Beschluß einstellte, bevor es eröffnet wurde. Darüber hinaus gibt der Prozeß gegen Erich Mielke Anlaß zu einer zweiten, mindestens ebenso notwendigen, zugleich aber schmerzhafteren Rückbesinnung:

Wer waren die Täter im Jahr 1931? Wie trugen sie zur Zerstörung der ersten deutschen Republik bei? Welchen politischen Ideen, welchen Utopien hatten sie sich verschrieben? Von den Nazis und den Nationalkonservativen ist viel geredet worden, sprechen wir heute von der Schuld der KPD: „Wer glaubt, sich mitten im Endkampf zu befinden“, so schrieb Carl von Ossietzky, der „wird in der Wahl der Mittel nicht heikel sein.“ Dazu gehörten Militanz und politischer Terrorismus. Ein „Revolverheldentum“, das sich „am Rand der KPD eingenistet“ hatte, geführt und verführt von jenen Desperados, die Ossietzky als „versprengte, masochistische Intellektuelle“ charakterisierte, „die selig sind, wenn sie ein kräftiger Funktionär anbrüllt“. Gemeint waren damit zweifelsohne auch die führenden KPD-Funktionäre Heinz Neumann und Hans Kippenberger, die damals den Terrorapparat der KPD leiteten, die die politische und organisatorische Verantwortung für die Bülowplatz-Morde trugen. Morde, die die offizielle Parteigeschichte später kurz und billig als „Fehler“ abhakte, um dann rasch zu dem mit Halbwahrheiten gespickten Heldenepos von Widerstand und Verfolgung voranzuschreiten.

Einer der Täter von 1931 bezeichnete den Doppelmord in bestem Nazi-Deutsch als „Arbeit“ für eine Gruppe — sie nannte sich „Einsatzgruppe“, war Teil des Partei-Selbstschutzes, des PSS. Das Wörterbuch des Unmenschen ist nicht von den Nazis alleine erfunden worden, die Urheberrechte für eine Politik des Genickschusses werden nicht nur von ihnen gehalten. Und der Antisemitismus wurde, wie wir am Fall Erich Mielke noch zeigen werden, auch auf der Linken gepflegt.

Unabhängig von allen rechtlichen Einwänden gegen das derzeitige zweite Bülowplatz-Verfahren muß der sachliche Gehalt der alten Anklage erörtert werden. Er wurde von der Nazi-Justiz verstümmelt, von wechselnden Interessenten politisch instrumentalisiert. Aber heute ist es möglich, dem als Mörder angeklagten Erich Mielke einerseits alle Garantien des Rechts zu Teil werden zu lassen und gleichzeitig nach der Wahrheit zu suchen. Zumindest sollten wir als Erwachsene darüber reden: Wenn auch noch nicht lange, so sind wir doch jener Ära entwachsen, die Ernst Nolte mit einigem Recht als Zeitalter des Europäischen Bürgerkriegs bezeichnete. Ein Zeitalter ideologischer Endzeitstimmungen, das unendliche Grausamkeiten und geistige Verbiegungen hervorbrachte.

Das Bülowplatz-Verfahren 1931-1934-1992 ist Exempel einer ganzen Epoche. Zur Debatte steht, was Hannah Arendt klassisch formulierte: „Der Aktivismus der totalitären Bewegung äußert sich vor allem in der ausgesprochenen Vorliebe für terroristische Aktionen... Terror war zum Stil des politischen Handelns überhaupt geworden, ein Mittel, sich selbst, den eigenen Haß und ein blindes Ressentiment auf alles Bestehende auszudrücken.“

Lenkt das alte Verfahren vom Stasi-Komplex ab?

Natürlich, so kann man einwenden, lenkt das aktuelle Moabiter Treiben mit und gegen Erich Mielke vom Wesentlichen ab. Der gewaltsame, scheinbar kaum noch zu klärende Tod der Polizisten Lenck und Anlauf, geschehen noch im ersten Drittel des nun fast zu Ende gegangenen Jahrhunderts, verblaßt vor dem, was eigentlich zu verhandeln wäre. Gewiß steht auch ein anderer, gegen Erich Mielke und Genossen gerichteter Strafprozeß an. Zu verhandeln wären die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit: die Unterdrückung, Funktionalisierung und Bevormundung des Menschen durch den Menschen, der permanente Versuch, Individualität und persönliche Freiheit zu enteignen, den einzelnen regelrecht zu verstaatlichen. Ein solches Verfahren dürfte nicht die ganz besonderen Grausamkeiten und Kapitalverbrechen des Apparates „Stasi“ in den Mittelpunkt stellen, vielmehr müßten dabei die alltägliche Gegenwart, die totalitäre Realität „Stasi“ prozessual erörtet und ins öffentliche Rampenlicht gestellt werden.

1931 wurden die Weichen gestellt

Demnach wäre der derzeitige Prozeßstoff aus dem Jahr 1931 nichts weiter als eine große Ausrede, ein Schmierenstück, gemeinsam inszeniert von interessierten Stasi-Kreisen, dem Herrn Angeklagten und einer staatsfrommen deutschen Justiz, die sich mit aller Macht davor drücken wollen, den Mißbrauch der Staatsmacht prinzipiell zu erörtern.

Das Argument hat einiges für sich, es mag sich sogar bewahrheiten. Aber erstens ist noch nicht ausgemacht, ob ein solches Verfahren nicht doch noch stattfindet, und zweitens erweist sich, daß das historische Bülowplatz-Verfahren für einen späteren Stasi-Prozeß durchaus von Nutzen sein könnte. Am 9. August 1931 wurden nicht nur zwei Polizisten ermordet, der ersten deutschen Republik ein Sargnagel mehr eingeschlagen — damals wurden auch für Erich Mielke die Lebensweichen gestellt, die Tat wurde vom Geheimapparat der KPD geplant und ausgeführt. Die Sätze, die Ossietzky unmittelbar nach dem Attentat über die KPD schrieb, prognostizierten Aufstieg und Fall der späteren DDR: Massenhaft werfe die Partei diejenigen hinaus, „die unter Kollektivismus nicht den Verzicht auf eigenes Denken verstehen“, und bilde „in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates, in dem die Autarkie ausgebrochen ist — so kann einmal Deutschland aussehen, wenn die Apostel der ,eigenen Kraft‘ sich durchsetzen sollten“.

Warum sollen wir uns mit den deutschen Vergangenheiten nur dann beschäftigen, wenn Gedenktage anstehen, wenn Geschichtswerkstätten im Heimatschlamm gründeln oder wenn das Deutsche Historische Kohl-Museum unter der Ägide des Groß-Inszenators Stölzel seine Millionen verbrät? Das derzeitige Verfahren gegen Erich Mielke ist, so müssen wir unsere bisherige Kommentierung berichtigen, weder Historienposse noch Schmierenstück. Richtig inszeniert und verstanden wird es zur paradigmatischen Tragödie über die Irrtümer, Grausamkeiten und Verblendungen einer ganzen Epoche. Götz Aly