Ein phlegmatischer Bücherwurm

■ Cees Nootebooms neuer Roman „Die folgende Geschichte“

Einen „schizophrenen Gartenzwerg aus dem Antiquitätengeschäft“ nannte ihn selbst die einzige Frau, die ihn je in Liebe oder etwas in der Art verstrickte — Altphilologe Hermann Mussert, Lehrer a.D. und Verfasser von Reiseführern, hält es mehr mit Plato als dem prallen Leben. Und so ist er nicht sonderlich begeistert, über sein eigenes Rechenschaft ablegen zu müssen, doch daran kommt er in Die folgende Geschichte nicht vorbei.

Zunächst wacht er in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, in dem er eigentlich nicht sein kann — ist er doch abends in seiner Junggesellenwohnung in Amsterdam schlafen gegangen. Immerhin kennt er das Zimmer — hier kulminierte die einzige nennenswerte Affäre seines Lebens vor zwanzig Jahren. Also scheint Erinnerung die einzige Chance, das Rätsel zu lösen. Im Hotelzimmer ist er mit seiner dürftigen Lebensgeschichte wenigstens noch allein. Im zweiten Teil verschlägt es ihn mit sechs fremden und befremdlichen anderen auf eine mysteriös-traumartige Schiffsreise, und alle scheinen nur eines miteinander zu tun zu haben: „sich gegenseitig den Spiegel unserer exemplarischen Zufälligkeit vorzuhalten“.

Reisen ist das zentrale Thema des holländischen Erzählers Cees Nooteboom seit seinem ersten Roman (Das Paradies ist nebenan, 1955), in Die folgende Geschichte hebt er es in schwindelerregende metaphysische Höhen: Es geht hier mindestens um Liebe und Geist, Geist und Leben, Leben und Tod. Und nicht nur das, der Autor treibt mit dem Leser seine Spiele und setzt dabei so ziemlich alle erzählerischen Essentials der Schwergewichtsklasse ein: Wirklichkeit und Fiktion, Zeit, Erinnerung und ihre Schwierigkeiten, Traum oder nicht Traum. Der Witz des Buches ist, daß das, ohne die Behandlung des Wesens der Dinge ernsthaft zu beschädigen, denkbar locker, komisch und unprätentiös daherkommt.

Was daran liegt, daß der phlegmatische Bücherwurm im hinterlistigen Plauderton vor allem über Konkretes und Banales räsoniert. Die Versuche, sich in der merkwürdigen Existenz, die ihm der Autor zumutet, zurechtzufinden, hindern ihn nicht, sich mit Wichtigerem zu beschäftigen: mit den Gefühlen beim Dosenöffnen etwa („eine der sinnlichsten Erfahrungen, die ich kenne, wenngleich das in meinem Fall natürlich nicht viel besagen will“) oder seiner Zunge: „In all ihrer schweineähnlichen Einfachheit ist sie noch einer meiner anziehendsten Körperteile.“ Längst überfällig war auch eine Abhandlung über die Probleme des stark Kurzsichtigen, sich nach dem unvermeidlichen Ablegen der Brille noch zielgerichtet dem Geschlechtsverkehr zu nähern.

„Sokrates“ — so nannten ihn seine Schüler — ist einer von den skrupellosen Erzählern, die jedes Wort dreimal umdrehen und kommentieren. Aber er tut es schnell und überraschend, er nutzt in seinen listig nachklappenden Sätzen den Vorteil aus, den er dem Geschriebenen vor dem Leben zuschreibt: „Nur das Geschriebene existiert, alles, was man selbst tun muß, ist formlos, dem reimlosen Zufall unterworfen. Und es dauert zu lange.“

Und der Altphilologe kann, von stiller Größe weit entfernt, plump ausfallend werden. Wenn er seinen rosig-lebensfrohen Widersacher (natürlich nicht mutig ins Gesicht) anpöbelt: „Auszusehen wie ein schlecht gebratenes Kotelett und von Poesie zu sprechen, das geht zu weit“, dann läßt man ihm sogar die sorgfältig dosierten Momente altphilologischer Ergriffenheit durchgehen. Ohnehin entschuldigt er sich gleich selbst, wenn ihn die Erinnerung, wie er vor seinen Schülern Sokrates' Tod mehr aufführte als las, aus seiner Reserve lockt: „ich weiß auch, daß Sokrates Teil des ewigen Mißverständnisses der abendländischen Kultur ist, doch sein Tod rührt mich immer, vor allem wenn ich ihn selbst spiele.“

Nooteboom schafft einen seltenen Spagat: ein brillantes Erzählen, das sich andauernd sich selbst zuwendet, was sonst zwar geistreich sein kann, aber selten aufregend ist; und eine Geschichte, die spannend bleibt. Matthias Huff

Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp, 147Seiten, gebunden, 28DM.