Sorge vor Nationalitätenkonflikt wächst

■ In Afghanistan könnten ethnische Konflikte die bisherigen ideologischen Gegensätze überlagern

Islamabad (afp/taz) — In Afghanistan mehren sich die Anzeichen dafür, daß ein Nationalitätenkonflikt den dreizehn Jahre alten Krieg zwischen der kommunistischen Regierung in Kabul und den Mudschaheddin-Rebellen ablösen könnte.

So fiel Mitte März die nordafghanische Provinzhauptstadt Mazar nach heftigen Gefechten an eine Koalition aus Mudschaheddin und ehemals regierungstreuen Milizen, die nur eins verbindet: ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu den usbekischen und tadschikischen Volksgruppen Afghanistans. Loyal zur Regierung stehende Offiziere hingegen sollen nach der Eroberung der Stadt durch die Rebellen zu ihren früheren Erzfeinden, den Leuten von der Hisb-i- Islami-Mudschaheddin, geflohen sein, die wie sie der Volksgruppe der Paschtunen angehören.

In Afghanistan sind die Paschtunen seit Jahrhunderten die dominierende Nationalität. Sie stellten nach letzten Vorkriegsstatistiken etwa 43 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Die tadschikische Volksgruppe machte etwa 28 Prozent der Bevölkerung aus, die Usbeken neun Prozent. Die Paschtunen leben vornehmlich im Süden, während Usbeken und Tadschiken im Norden an den Grenzen zu den gleichnamigen früheren Sowjetrepubliken die Mehrheit bilden. Auch die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen können ethnisch zugeordnet werden. So sind die meisten Dschamiat-Mudschaheddin Tadschiken, während die Hisb-Mudschaheddin dem Paschtunenvolk angehören.

Für manche ist das Haarspalterei: Seit mehr als hundert Jahren gebe es zwischen Usbeken, Paschtunen, Tadschiken und anderen afghanischen Stämmen keine Spannungen, sagte der Sprecher der Dschamiat- Mudschaheddin, Mohammed Ayub, am Freitag im pakistanischen Peshawar. Während andere Beobachter bereits die Teilung Aghanistans in einen paschtunischen Süden und einen usbekisch-tadschikischen Norden befürchten, beharrt Ayub auf der Meinung, Gerede über ethnische Bündnisse im afghanischen Krieg sei nichts als Propaganda aus Kabul. Beim Kampf um die Stadt Mazar hätten die usbekischen Milizen sich mit den Mudschaheddin nicht verbündet, sondern sich lediglich ergeben.

Der Führer der Dschamiat-Rebellen, Burhanuddin Rabbani, hatte dagegen tags zuvor die Beteiligung vormals regierungstreuer Milizen an der Eroberung von Mazar eingeräumt. Unklar blieb jedoch, inwieweit die Rebellen Ende vergangener Woche die Stadt kontrollierten.

Fest steht jedenfalls, daß Präsident Mohammed Nadschibullah, ein Paschtune, seit Dezember die Unzufriedenheit bei den regierungsnahen Milizen schürte, indem er ihre usbekischen Anführer durch seine eigenen Volksgenossen ersetzte. Die mehrheitlich usbekischen Milizenführer meuterten gegen diese ihnen aufgezwungene Entscheidung aus Kabul. Nadschibullah lenkte schließlich ein und schickte seinen Vize-Außenminister, General Nabi Azimi, nach Mazar, um die Gemüter zu beruhigen. Azimi gehört dem Volk der Tadschiken an.

In Mazar geriet Azimi mitten in den Angriff der Rebellen. Nach Angaben der Mudschaheddin hielt er sich auch am vergangenen Freitag noch immer in der mittlerweile besetzten Stadt auf. Sie erklären, der Gesandte Nadschibullahs habe sich an der Verteidigung der Kaserne von Dehdadi beteiligt, der letzten Stellung der Regierungstruppen in Mazar. Diplomaten dagegen äußerten die Vermutung, Azimi sei „Gast“ des Milizführers Abdul Raschid Dostam, dessen Verhältnis zur Regierung Nadschibullah in letzter Zeit deutlich abgekühlt war.

Sollten die Dschamiat-Mudschaheddin — mit oder ohne Hilfe der usbekischen Milizen — Mazar tatsächlich kontrollieren, dann ist ihnen damit ein strategisch wichtiger Sieg gelungen. Denn noch vor zehn Tagen war die Provinzhauptstadt nahe der tadschikischen Grenze fest in der Hand der regierungstreuen Truppen. Das von der Regierung als „militärisch und strategisch wichtig“ bezeichnete Mazar liegt an der Salang- Straße, einer Hauptnachschubroute für die Energie- und Nahrungsmittelversorgung der Hauptstadt Kabul.

1988 hatte die afghanische Regierung nach Abzug der sowjetischen Trupppen sogar geplant, Mazar zur Ausweichhauptstadt zu erklären, sollte Kabul fallen. Jetzt wollen die Dschamiat-Mudschaheddin dort eine Übergangsregierung einrichten. Kabul dagegen beharrte noch am Freitag darauf, ein Großteil Mazars werde weiter von den vermeintlich regierungstreuen usbekischen Milizen unter Dostam gehalten.

Während im Norden Afghanistans gekämpft wurde, bot Präsident Nadschibullah vergangene Woche seinen Rücktritt für den Fall an, daß eine „neutrale“ Übergangsregierung die Macht übernehme. Mudschaheddin-Führer Rabbani behauptete am vergangenen Donnerstag, Grund für Nadschibullahs Angebot sei der Fall der Stadt Mazar gewesen.

Andere Beobachter führen den Schritt des Präsidenten auf Druck seitens der UNO zurück. Der UN- Sondergesandte Benon Sevan hatte sich kurz vor Nadschibullahs Erklärung zu Gesprächen in Afghanistan aufgehalten — auch er im übrigen beunruhigt über einen möglichen Ausbruch ethnischer Konflikte in Afghanistan. Nach Gesprächen in Pakistan traf sich Benon Sevan bei einem unangekündigten Kurzbesuch in Kabul gestern erneut mit dem afghanischen Außenminister Abdul Wakil und Präsident Nadschibullah. Réné Slama/li