Gegenstandslose Empfindung

„Die Große Utopie“ zeigt die russische Avantgarde 1915 bis 1932 in der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main  ■ Von Markus Weis

Die Frankfurter Kunsthalle ist rot. Ganze Wände wurden mit der leuchtenden Revolutionsfarbe getüncht. Von außen prunkt der postmoderne Glasbau in rotgestreiftem Dekor — wirkungsstarke Ankündigung eines seit fast vier Jahren vorbereiteten Großprojekts: Unter dem Titel Die Große Utopie — Die russische Avantgarde 1915-1932 hat die Kunsthalle zusammen mit der Moskauer Tretjakow-Galerie, dem Russischen Museum St. Petersburg und dem New Yorker Guggenheim-Museum eine zu diesem Thema einzigartige Ausstellung organisiert.

Der Titel ist streitbar. Zunächst sollte es „Konstruktion und Intuition“ heißen, gemäß der beiden Hauptlinien russischer Kunst zwischen 1910 und 1920: die Avantgarde im Spannungsfeld zwischen einer emotional-intuitiven Durchdringung der Welt (ausgehend von Malewitschs supremistischen Bildern) und einer nationalen, konstruktivistisch-analytischen Kunst (für die Tatlins „Materialkultur“ die ersten Zeichen setzte). Vielleicht sei dieser erste Arbeitstitel zu wenig publikumswirksam gewesen, mutmaßen die russischen Organisatoren in ihrem Vorwort zum (sehr empfehlenswerten) Katalog. Schirn-Direktor Christoph Vitali will das Wort von der Utopie positiver verstanden wissen: „Die Utopie, die Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst und den Menschen selber besser machen zu können“, sei deshalb „nicht weniger großartig, weil sie Utopie bleibt und bleiben mußte.“ Also nicht gleich beleidigt sein! Die Utopie war großartig, aber sie war eben eine Große Utopie. Oder ist das nur Wortklauberei?

Schauen wir sie uns an.

Da steht Wladimir Tatlins berühmtes „Modell des Denkmals zur III.Internationale“ (von 1919/20) im Foyer, die sich dynamisch und unaufhaltsam in den Himmel schraubende Spirale, die höher werden sollte als der Eiffelturm. Zweifellos ein großartiger Entwurf. Nur wurde er nie in der geplanten Größe realisiert: Es blieb bei dem fünf Meter hohen Modell. Auch ist in Frankfurt nur noch eine Rekonstruktion des Modells von 1979 zu sehen, alle Einzelteile des Originals gingen verloren.

Alles scheint 1915 begonnen zu haben, dem Jahr der Letzten Futuristischen Ausstellung 0.10. Diese markierte die Abkehr russischer Künstler von kubistischen Einflüssen. Kasimir Malewitsch stellte erstmals seine suprematistischen Bilder aus, darunter das (damals) spektakuläre „Schwarze Quadrat“. Der Suprematismus verstand sich als radikale Abkehr von der malerischen Wiedergabe von Natur. Malewitsch nahm das Quadrat auf weißem Feld als Grundform seiner Bilder — die geometrische Form sei Ausdruck „gegenstandsloser Empfindung“. Das schwarze Quadrat auf weißem Feld stand für die Empfindung, das weiße Feld für „das Nichts außerhalb dieser Empfindung“. In der Folgezeit ließ Malewitsch durch Drehung, Spiegelung, Verdoppelung des Quadrats mehrere geometrische Flächen in verschiedenen Farben entstehen — und auch hier viel Rot: „das Signal der Revolution“.

Für die Frankfurter Ausstellung wurden etwa 800 Werke aus Malerei, Grafik, Skulptur, Architektur, Theater, Kunsthandwerk, Fotografie und Plakatkunst zusammengesucht — sie stammen oftmals aus bisher unzugänglichen russischen Privatsammlungen und etlichen Provinz- und Spezialmuseen. In zwölf Sektionen werden die verschiedenen Schulen, Gruppen und Grüppchen der Avantgarde vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Mit über 40 Werken ist allein für Malewitsch schon eine eigene monographische Ausstellung gelungen. Gelungen: denn zum einen wird seine eigene Entwicklung zurück zur Gegenständlichkeit seiner späteren Bilder anschaulich (Postsuprematismus), zum anderen der enorme Stellenwert seiner Kunst für die russische Avantgarde, sein Einfluß auf Kljun, Funi, Rosanowa, Popowa und andere.

Der andere Strang russischer Avantgarde-Kunst, der Konstruktivismus, begann mit Tatlins „Konterreliefs“ — Zimmerecken ausfüllende Raumkonstruktionen aus Holz, Blech und Seilen. Die „höchsten ästhetischen Formen“ seien auch die „höchsten ökonomischen Formen“, forderte Tatlin. Die Kunst wurde zum Ausdruck einer von Mathematik und Technik beherrschten Welt. Aber auch Malewitsch und seine Schüler(innen) näherten sich dieser Auffassung praktisch an: sein Gips-Architekton „Alpha“ (von 1920) gleicht mehr der namensgleichen Mondbasis als einem bewohnbaren Gebäude.

Der zunehmende Druck des Staates auf das Kunstschaffen nach der Revolution war nicht Auslöser, er verlief Hand in Hand mit der Politisierung der Künstler und der Entwicklung hin zum Agit-Prop. „Proletarier“ steht in riesigen Lettern auf dem Plakat an El Lissitzkys strommastförmiger „Lenintribüne“ (Entwurf und Modellrekonstruktion, 1924). Jewgenija Lenewa dekorierte ihr suprematistisches Kaffee- und Teegeschirr 1930/31 mit Aufschriften wie „Gegen Ausbeutung“ und „Stärkt die Verteidigungsmacht der UdSSR“.

Am Schluß der Ausstellung werden zwei Fotoschulen gegenübergestellt. Auf der einen Seite sind Fotos von Alexander Rodtschenko und Boris Ignatowitsch zu sehen (Gruppe „Oktober“), auf der anderen die Fotoreportage „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben der Familie Filipow“ von Max Alpert, der der „Revolutionären Gesellschaft proletarischer Fotografen“ (ROPF) angehörte. Rodtschenkos Fotos zeigen nur Fragmente der Wirklichkeit, er erzählt keine Bildergeschichten. So zeigt sein Foto „Frau am Telefon“ (um 1923) eine von oben aufgenommene telefonierende Frau, deren Körper man aus dieser Perspektive völlig verkürzt sieht. Die Fotos wurden zunehmend kritisiert, seine Form wurde als westlich angesehen.

Die Auseinandersetzung um „das Ganze“, die vermeintliche Einheit der Realität, die Rodtschenko vorenthielt, wurde bekannt unter dem Titel Brecht-Lukacs-Debatte. Rodtschenko, der zur Brechtschen „Verfremdung“ tendierte, wurde 1932 aus der Gruppe „Oktober“ ausgeschlossen. An die Stelle dieser Avantgarde setzte der sozialistische Realismus das „Ganze“, worin die Tendenz zum künstlerischen Personenkult bereits angelegt war.

Die Große Utopie — Die russische Avantgarde 1915-1932. Bis zum 10. Mai in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, am Römerberg. Montag: 14-18Uhr, Dienstag bis Freitag: 10-22Uhr, Samstag/Sonntag: 10-19Uhr.