Geruch von Krokussen

Amelie Niermeyer inszeniert „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind in München  ■ Von Mirjam Schaub

Empfindsam und ein bißchen geniert hätte Amelie Niermeyer die sexuellen Nöte der Pennäler auf die Bühne bringen können, mit mütterlicher Hand die fünfte und sechste Schulklasse in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen geleitend. Das Programmheft ist so freundlich psychoanalytisch, überaus instruktiv in Sachen Erotik, Onanie und Suizid, daß es schwerlich als Pamphlet, sicher aber als Aufklärungsbroschüre taugt. Man weiß dann, wo gelacht werden darf — in der Gewißheit, ein Stück aus dem Jahr 1890 zu sehen, das seinen Skandal schon gefeiert, seine Moral überlebt hat...

Mit einem Trommelwirbel rund um den alles überragenden Birkenstamm entfacht Amelie Niermeyer ihr Frühlings Erwachen im Münchner Cuvilliés-Theater; mit dem leisen Satz „Ich wärme mich an der Verwesung und lächle“ beschließt sie es. In den drei Stunden, die dazwischen liegen, liefern sich die SchauspielerInnen Liebesspiele, Liebesphantasien und Liebesentzug, so heftig, so unbändig wie es eben geht.

Die 26jährige Regisseurin Niermeyer inszeniert das Stück des damals 27jährigen Wedekind wie Aprilwetter, als notorisches Wechselbad, das einen, bis auf die Haut durchnäßt, in den Geruch der Krokusse entläßt. Bis zur Erschöpfung jagt Niermeyer die SchauspielerInnen in fieberhafter Wollust über das multifunktionale Treppengerüst (Heuboden/Masturbationsstube) Alexander Müller-Elmaus. Christiane Roßbach als Wendla tobt herrisch und lüstern, die rechte Gegenspielerin des zaghaften Hans-Werner Meyer in der Rolle des Melchior. Gezielt übersteigert Niermeyer die masochistischen und sadistischen Anlagen der Wedekindschen Figuren, wohl wissend, daß Sexspiele — bekanntlich — auf der Bühne heikel sind. Und natürlich stirbt die sonst so innige Masturbationsszene von Hänschen Rilow (Franz Tscherne) durch einen einzigen, mitleidigen Lacher einer Frau aus dem Publikum.

Meistens vertraut Niermeyer der Wedekindschen Textvorlage, strafft Dialoge zu Monologen, flicht kleine, symbolträchtige Szenen ein: Wendlas Lehrer erscheint mit grellrotem Luftballon, ihrer Über-Fruchtblase sozusagen. Ein Mitschüler stottert einen schlüpfrigen Abzählreim, zu dem Wendlas Freundinnen wie Barbie-Puppen tanzen. Wenn der Manierismus überhand zu nehmen droht, besorgt ein kleiner Regiegriff wieder mehr Sinnlichkeit. Ausgiebig beschmiert sich Guntram Brattia, der seinen Moritz auszuspielen versteht, vor seinem Bühnenselbstmord mit Schlagsahne, denn „Schlagsahne hört nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen Nachgeschmack.“ Anstelle eines Sarges wird in der anschließenden Beerdigungsszene ein Kontrabaß hereingetragen, auf dem der Oberpfaffe (Rufus Beck) ein sonores Moll streicht. Mit einem fein ausgeklügelten Regiekonzept, der überlegten Mischung aus Ehrfurcht vor und Spott über den Wedekindschen Text, gelingt es Niermeyer, das Groteske, Bigotte nicht zur Klamotte verkommen zu lassen. Die Inszenierung ist schrill, manchmal lautstark, und einmal verhebt sie sich: Melchiors Mutter (Christine Buchegger), zunächst kunstvoll zur distinguierten Verführerin stilisiert, wird später ins Klischee fallengelassen: die Übermutter, die hysterisch den zum Mann gewordenen Sohn an die Strafe der Institutionen verrät.

In der bayerischen Inszenierung geht es nicht mehr um Aufklärung und schon gar nicht um romantisches Liebesschwelgen. Jede Figur auf der Bühne verfolgt rigoros ihr eigenes Glück. Mit dem Brustton der Überzeugung höhnt die Mädchenclique um Wendla auf die sentimentale Jungenswelt: „Küüßen, um geküßt zu werden, liieben, um geliebt zu sein!“ Wütend stürmen Niermeyers Halbwüchsige von der Bühne, wenn Wedekind den Tod anbefohlen hat, um den ZuschauerInnen die Appelle an das Gewissen gelassen zu erlassen.

Frühlings Erwachen ist bei Niermeyer ein bißchen belanglos und ein bißchen aufregend, weil sie es so leichtfüßig, so blauäugig wie irgend möglich auf die Bühne bringt.

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Cuvillié-Theater, München. Regie: Amelie Niermeyer, Bühne: Alexander Müller-Elmau. Mit Hans-Werner Meyer, Christine Buchegger, Guntram Brattia, Christiane Roßbach, Katharina Müller-Elmau u.a. Nächste Aufführungen: 1., 12., 13., 22., 23. und 25.April.