Kreisläufe der Armut

Brasilien hat sich mit dem andauernden Elend seines Nordostens abgefunden  ■ VON ASTRID PRANGE

In der „Casa dos milagres“ (Wunderhaus) opfern Gläubige dem heiligen Franziskus ihre Gliedmaßen. Köpfe, Hände, Füße, Arme, Beine — kein Körperteil fehlt in dem riesigen Holz- und Styropor-Stapel, der die magischen Kräfte des Heiligen dokumentiert: Jede Prothese verkörpert den Dank für eine kurierte Krankheit.

Rund 15.000 Danksagungen dieser Art erreichen die Casa dos milagres im nordostbrasilianischen Wallfahrtsort Canindé jedes Jahr. „In letzter Zeit hat die Zahl der Köpfe stark zugenommen“, meint Adalberto Barreto. „Das Elend treibt die ,Nordestinos‘ zur Verzweiflung.“ Der Medizinprofessor von der „Universidade Federal de Céara“ in Fortaleza, Hauptstadt des Bundesstaates Céara, sortiert die Gliedmaßen, um herauszufinden, worunter die Bevölkerung am meisten leidet.

Die Armut im brasilianischen Nordosten, wo das Pro-Kopf-Einkommen mit rund 700 Dollar im Jahr nur ein Drittel des nationalen Durchschnittswertes ausmacht, gräbt tiefe Narben in die Haut seiner rund 40 Millionen Einwohner — wortwörtlich: Die messerscharfen Blätter des Zuckerrohrs etwa zerschrammen die Beine einer halben Million Plantagenarbeiter. Schwärme von Insekten weiden sich an dem Gemisch aus Blut und Zuckersirup, das an ihrer Haut klebt, wenn sie während der Erntezeit die abgebrannten Zuckerrohrstümpfe mit der Sichel abhacken. Unterernährung und Vitaminmangel zerstören das Gebiß und verursachen Kleinwüchsigkeit. Etwa 100 von 1.000 Säuglingen überleben das erste Lebensjahr nicht, gegenüber 48 im nationalen Durchschnitt (in Deutschland: sieben).

Rattenmenschen

„Das größte Problem ist der Hunger“, meint Daniel Aamot vom unabhängigen Forschungsinstitut „Josué de Castro“ aus Recife, Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco. Zusammen mit zwei Mitarbeitern hat der Fotograf eine Ausstellung organisiert, die den Kampf der Bewohner von Elendsvierteln, genannt „Favelas“, gegen den Hunger dokumentiert. Beißende Lyrik, verfaßt von Tarciana Portela, und verfremdete Bilder veranschaulichen, wie der Hunger die „Favelados“ entmenschlicht. „Rattenmenschen“ nennen Sozialforscher die Ärmsten der Armen, weil sie sich wie die Nagetiere vom Müll der Wegwerfgesellschaft ernähren.

„Es war einmal ein Rattenkind. Nach dem siebten Hunger verwandelten sich seine Rippen in Gitter“, steht unter einem Bild, das einen Straßenjungen im Gefängnis zeigt. Die poetische Aufarbeitung der Armut entpuppte sich als Publikumsrenner. Das Interesse der brasilianischen Öffentlichkeit, die sich normalerweise ungern den sozialen Spiegel vorhalten läßt, war so groß, daß die Ausstellung statt acht Tagen einen Monat lang in der städtischen Galerie von Recife hängen blieb. Nach dem erfolgreichen Start geht der „Rattenmensch“ nun auf Brasilien-Tournee: Im März war die Ausstellung anläßlich der 500-Jahr-Feiern zur „Entdeckung“ Lateinamerikas in Sao Paulo zu sehen, und im Juni stehen die Tafeln während der UNO-Umweltkonferenz (UNCED) im Museum für Moderne Kunst in Rio.

Ist der Nordosten wirklich so arm? Der Gouverneur des Bundesstaates Céara, Ciro Gomes, bejaht die Frage, allerdings mit einigen Einschränkungen. „40 Prozent der Bevölkerung sind entweder arbeitslos oder im informellen Sektor beschäftigt und verdienen weniger als den Mindestlohn (rund 100 Mark). Knapp die Hälfte sind Analphabeten.“ In Sao Paulo liegt die Arbeitslosigkeit bei 11,3 Prozent; in ganz Brasilien liegt die Analphabetenrate bei 18 Prozent — etwa 20 Millionen Menschen.

Die Armut, so der Gouverneur unverhohlen weiter, werde durch eine enorme Konzentration von Vermögen und Großgrundbesitz sowie eine konservative Elite verursacht, „die sich den Staatsapparat für ihre Interessen zu eigen gemacht hat“.

Wo Dürre reich macht

Verschärft wird die Armut durch den Umstand, daß ein Großteil des Nordostens — mit 1.650.000 Quadratkilometern rund ein Fünftel des brasilianischen Territoriums — in regelmäßigen Abständen von Dürreperioden heimgesucht wird. Doch was die Kleinbauern in den Ruin treibt, ist für Großgrundbesitzer und Politiker eine Quelle des Reichtums. „Über den feudalistischen Herrschaftsverhältnissen hat sich eine regelrechte Dürreindustrie herausgebildet“, meint Diro Gomez, der sich als einziger Gouverneur der neun nordöstlichen Bundesstaaten mit der herrschenden Elite angelegt hat (siehe Kasten).

Je verheerender die Auswirkungen der Trockenperiode, desto üppiger die Gelder aus Brasilia für Hilfsprogramme. Die Bürgermeister von 775 Gemeinden in den betroffenen Gebieten verteilen dann großzügig Körbe mit Grundnahrungsmitteln, sogenannte „Cestas basicas“, an die hungernde Bevölkerung. „Bei der Verteilung zwingen die Politiker die Leute, diesen oder jenen Kandidaten zu wählen“, erklärt Ciro Gomes.

Die Industrie aus dem Süden Brasiliens verdient an der Trockenheit. Um Brunnen auszuheben, werden riesige Bagger und Kräne in den Nordosten transportiert — gekauft mit Hilfsgeldern aus Brasilia. „Daß die Gemeinden häufig nicht in der Lage sind, auch nur die Kosten für den Dieseltreibstoff aufzubringen, interessiert niemanden. Hauptsache, die Maschinen sind verkauft“, meint der Hydrologe Aldo Reboucas von der Universität Sao Paulo.

Um den von der Dürre Gegeißelten zu helfen, werden von staatlicher Seite sogenannte „Arbeitsfronten“ eingerichtet. Wer sich einschreibt, arbeitet drei Tage pro Woche, bekommt dafür einen halben oder ein Drittel Monatslohn und ist kostenlos krankenversichert. Die Grundbesitzer profitieren davon mehr als die Bauern: „Mit den Steuergeldern werden Staudämme und Sammelbecken innerhalb des privaten Großgrundbesitzes errichtet“, weiß Vando Nogueira, Direktor des Forschungsinstituts „Josué de Castro“. Viele dieser Großgrundbesitzer würden der Bevölkerung sogar während der Trockenzeit den Zugang zu den Brunnen verwehren.

Weil die Gelder aus Brasilia den Politikern vor Ort Stimmen verschaffen und den Organisatoren — meist Verwandte der Politiker — einflußreiche Posten bescheren, bleibt die „Arbeitsfront“ zuweilen auch nach der Dürre noch bestehen. Registrierte Niederschlagsmengen werden auch häufig von Politikern zu ihren Gunsten nach unten manipuliert.

Die letzte große „Arbeitsfront“ wurde während der großen Dürre von 1979 bis 1984 eröffnet; 1983 umfaßte sie 2.700.000 Menschen. Damals wurde das Versagen dieser brasilianischen ABM-Variante deutlich: Über 100.000 Menschen starben nach Berechnungen des unabhängigen „Instituts für soziale und wirtschaftliche Analysen“ (IBASE) an den Dürrefolgen in diesem Zeitraum. IBASE-Vorsitzender Herbert de Souza verurteilt diese Politik gegenüber dem Nordosten als vorsätzlichen Völkermord: „Wenn eine Regierung diese Menschenmasse zum Arbeiten anhält und eine Familie mit einem Lohn bezahlt, der noch nicht einmal für das Existenzminimum einer einzigen Person ausreicht, dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Die Armen sollen unter der Aufsicht des Staates sterben, in offenen Konzentrationslagern ohne Gas, Schüsse, Mauern oder Stacheldraht — eine brasilianische Lösung ohne Gewalt“, schreibt er in seinem Buch Der Völkermord im Nordosten 1979 bis 1983.

Der schwere Vorwurf von Herbert de Souza trug dazu bei, daß die Dürre heute nicht mehr als alleinverantwortliche Ursache der Armut angesehen wird. „Dies ist keine Wüste, sondern ein semiarides Gebiet“, stellte der Hydrologe Aldo Reboucas klar. Es fehle kein Wasser — lediglich die ungerechte Verteilung der Ressourcen und mangelhafte Bewässerung hätten die Region zum Bittsteller der Nation verkommen lassen.

Reboucas steht mit seiner Behauptung nicht alleine da. Die rund 1.000 Wissenschaftler aus Dürregebieten oder semiariden Zonen in aller Welt, die sich Anfang Februar in Fortaleza zu einer Klimakonferenz trafen, machten in erster Linie menschliches Fehlverhalten und nicht klimatische Umstände für die Armut der 785 Millionen Menschen verantwortlich, die weltweit in Dürregebieten leben. Falsche Bewässerungsmethoden würden zur Versalzung des Bodens führen — in Syrien, Pakistan und im Irak sei bereits über die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche versalzen. Im argentinischen Patagonien beschädige exzessive Schafzucht die Böden. Um Armut in Dürregebieten zu bekämpfen, sei es notwendig, „eine Agrarreform durchzuführen, die Handelsbarrieren aufzuheben und die Erfahrungen der örtlichen Bevölkerung bei Studien und Entwicklungsprojekten miteinzubeziehen“, hieß es im Abschlußkommuniqué.

Wasserfresser Zucker

Im Nordosten, wo 900.000 Quadratkilometer als semiarid gelten, ist die Armut denn auch nicht im Landesinneren am verheerendsten, sondern ausgerechnet im fruchtbaren Küstenstreifen. Von Maceió, der Hauptstadt Alagoas, bis nach Recife wird dort durchgehend Zucker angebaut. An den der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen hat sich trotz der Abschaffung des Menschenhandels vor rund 100 Jahren nicht viel geändert. „Eine Gruppe rückwärtsgewandter Unternehmer würde am liebsten heute noch die Peitsche schwingen“, gibt Eliezer Menezes, stellvertretender Vorsitzender der staatlichen Behörde für die Entwicklung des Nordostens, „Sudene“, zu.

Schon als diese Behörde im Jahre 1959 gegründet wurde, galt der Zuckerrohranbau als defizitärer Wirtschaftszweig. Das Alkoholprogramm der brasilianischen Militärregierung in den 70er Jahren — das Brasilien zum einzigen Land der Welt machte, in dem die Autos mit Alkohol angetrieben werden — konnte den langfristigen Niedergang nur verzögern. Der Sturz des Ölpreises in den 80er Jahren machte den staatlich subventionierten Alkoholtreibstoff zu einem enormen Verlustgeschäft.

Die Ernte auf den von jahrhundertelanger Monokultur ausgelaugten Böden wird immer geringer, die Produktion im Vergleich zum Süden des Landes immer unrentabler. Zunehmende Automatisierung hat dazu geführt, daß viele Plantagenarbeiter nicht mehr auf dem Land wohnen, sondern nur noch zur Erntezeit Lastwagen aus den Städten angekarrt werden. Dort bleibt ihnen ansonsten nichts anderes als ein elendes Dasein in den überquellenden Favelas oder als „Rattenmenschen“ in einer Wellblechhütte direkt auf der Müllkippe. Die Landflucht hat dazu geführt, daß mittlerweile 60 Prozent der Bevölkerung des Nordostens in den großen Küstenstädten leben.

Dennoch sind vor allem im Bundesstaat Pernambuco noch immer 250.000 Landarbeiter von der Zuckerrohrindustrie abhängig. Die Heerschar ungebildeter Tagelöhner ist das Faustpfand der Zuckerrohrbarone, die trotz zunehmender wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit immer noch über großen politischen Einfluß verfügen. „Die Destillen- und Plantagenbesitzer investieren nicht in die Erhöhung der Produktivität, weil genügend billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Dieser Art von Produktion kommt das Analphabetentum gerade recht“, meint Vando Nogueira.

Leere Hülse Staat

Brasiliens Präsident Fernando Collor de Mello verstand es meisterhaft, die Armut in Stimmen für sich umzumünzen. Während seiner Kampagne vor zweieinhalb Jahren versprach Collor, damals noch Gouverneur des nordöstlichen Bundesstaates Alagoas, sich für die Region stark zu machen. Doch bis jetzt sind die Wahlversprechen noch nicht in die Tat umgesetzt worden.

Die Behörde „Sudene“, jahrelang Motor der Industrialisierung des Nordostens, räumt in der Festschrift zu ihrem 30jährigen Bestehen ein, daß alle Projekte — von der Errichtung kleiner Brunnen bis zu großen Bewässerungsanlagen — schließlich „den ländlichen Oligarchien zugute kamen“. Heute hat die Schuldenkrise dem Staat als Entwicklungsmotor in der rückständigen Region endgültig den Garaus gemacht.

„Die Regierung Collor verfügt über keinen strategischen Plan, um die Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden Brasiliens zu überwinden“, kritisiert Ciro Gomes. Meinungsumfragen bestätigen den Gouverneur von Céara: Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung aus den Hauptstädten der neun nordöstlichen Bundesstaaten sind bereit, bei den kommenden Gemeindewahlen im Herbst einem von Collor ausgesuchten Kandidaten die Stimme zu schenken. Die fünf Gouverneure aus dem Nordosten, die Collor noch unterstützen, sind beim Volk in Ungnade gefallen.

Dem Nordestino bleibt nichts anderes als Fatalismus. Auf die immer wieder hinausgeschobene Agrarreform, so der Schriftsteller Graciliano Ramos, „muß der Nordestino bis zu seinem Lebensende warten. Dann bekommt er endlich sein ersehntes Stück Land: ein Grab.“