Abend mit Goldrand

■ Günter de Bruyn las in Wolff's Bücherei aus »Zwischenbilanz«

Lausig eng« würde es werden, hatte die Buchhändlerin nicht ohne Stolz in der Stimme schon am Telefon gewarnt, und natürlich sollte sie recht behalten. Lange bevor Günter de Bruyn milde lächelnd vors Mikrophon tritt, werden Stühle gerückt und Kabel verlegt in Wolff's Bücherei, einem honorigen Traditionsschuppen, wie ein erster Blick auf Interieur und Publikum mich Neuberliner belehrt. Hier ist die Buchhandlung noch Ersatzkirche. Das Pro- Kopf-Aufkommen potentieller Literaten scheint besonders hoch. Auch der Rundfunk ist mit von der Partie, hält sich aber dezent im Hintergrund. Auf die Füße tritt man sich hier nicht, und wenn, dann unter Entschuldigungen und anderen Artigkeiten. Die vorderen Ränge sind ohnehin Steglitzer Kulturhonoratioren vorbehalten, die nach allen Seiten grüßend ihre Plätze einnehmen.

De Bruyns würdige Altherrenerscheinung paßt nicht schlecht zu dem intarsiengeschmückten Pult. Nach einleitenden und entschuldigenden Worten für die »drangvolle Enge« im Raum liest er fünf Abschnitte aus seinem gerade erschienenen Buch Zwischenbilanz. Zuerst die Einleitung, die bereits durch die Feuilletons gegangen ist, weil sie das Vorhaben auf zitierfähige Weise bereits resümiert: ... »die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion... Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen.« Unverhüllt und ungeschönt soll sie sich zeigen, diese Wahrheit, doch alles preiszugeben verspricht de Bruyn nicht. Die eigentliche Bilanz soll dann mit achtzig kommen.

Der Mann denkt großzügig. Und zuversichtlich. Zwischenbilanz ist keine zerknirschte Abrechnung mit der Vergangenheit, kein Buch über die späten Jahre der DDR, wie der Titel vermuten läßt. Nichts Neues von der Stasi-Verstrickungsfront und auch keine Bewältigungsprosa. Dazu ist schon der zeitliche Rahmen zu begrenzt. Beschrieben wird eine Kindheit in Berlin, die im Drill der Nazizeit frühzeitig endet. De Bruyn hat sie nach Briefen, Tagebuchnotizen, nach Gesprächen und alten Wochenschauen zusammengetragen. Der Großteil der Erinnerungen aber, darauf beharrt er, hat sich im Laufe der Arbeit im eigenen Bewußtsein wiedereingefunden. Die große Behauptung und Vorgabe der Zwischenbilanz: persönliche Geschichte sei nach wie vor verfügbar zu machen, sei erzählbar.

Die Kapitel, die er liest, handeln von Sonntagen in der Familie, von Spaziergängen am Kanalufer, wo die Treidelbahnen bummeln und auf den Drahtseilen der Lastkähne »immer Waschtag zu sein« schien. Der Reiz alter Grammophonplatten wird heraufbeschworen, das Erlebnis gemeinschaftlicher Kinobesuche in den »Britzer Kammerspielen«, dem »Apollo« oder der »Schauburg«, bei denen die Kästner-Verfilmung Emil und die Detektive das erwachende Gerechtigkeitsempfinden schärft und die Männchen aus der Bolle-Werbung die Träume bestimmen. Eine Kindheit passiert Revue, in der das »Glück des Sichvergessens« an der Tagesordnung war. Nur langsam dringt etwas von der Wirklichkeit der Nazizeit in die preußisch-katholische Idylle: Plötzlich grüßt man anders, die einen zackig, die anderen halbherzig, auf jeden Fall herrscht ein anderer Ton. In der Nachbarschaft beginnt man Leute wegzuschaffen, darunter auch Dichter, die keiner so recht kennt: »Heute weiß ich: es war Erich Mühsam.«

Schwierigkeiten mit der Sprache hat de Bruyn keine. Seine Erinnerungen kommen im soliden Präteritum daher, ohne Atemnot und offenkundige Zweifel, und so liest er auch: ruhig, gelassen, ein wenig gediegen und episodenhaft. Ein Abend mit leichtem Goldrand. Die Macht der Sprache, sie soll darin bestehen, daß sie dem hilflosen Träumer, der de Bruyn als Flakhelfer umd Arbeitsdienstler einmal war, Obdach gewährt, und zugleich — von heute aus — dieser sanften Renitenz ein Denkmal setzt. Als der Vortrag zu Ende ist, scheint eher das Publikum — bei aller Wohlgesonnenheit — ratlos. Sind Erinnerungen an Krieg und Nazizeit wirklich so einfach zu haben, so persönlich rekapitulierbar, so umstandslos durch erzählerische Ironie verfügbar zu machen? Unterschlägt diese schmucklose Prosa nicht doch einen Teil der Wirklichkeit?

De Bruyn beharrt sanft berlinernd auf der Authentizität seiner Erinnerungsarbeit, der Glaubwürdigkeit der angelegten Kindheitsmuster. Und tatsächlich, bei näherem Hinhören sind sie herauszuhören, die Zwischentöne und reflexiven Momente im etwas betulichen Erzählstrom. »Die Einseitigkeit unserer Erziehung hatte uns zu politischen Analphabeten werden lassen«, heißt es im Abschnitt mit dem schönen Titel Kunsthonig nach einer längeren Beschreibung der Jugend in nationalsozialistischen Anstalten, »man lernte, sich zu entziehen; aber systemkritisch zu denken lernte man nicht — oder nur schwer, oder nur wenn ein Anstoß von außen kam.«

Fast möchte man solche Passagen als Vorwegnahme des geplanten zweiten Teils der Autobiographie nehmen, der Jahre in der DDR, und auch Günter de Bruyn plaudert zum Abschluß noch ein wenig von dem Projekt, das wohl sein Alterswerk werden soll. Doch allzu konkret werden will er nicht, das wäre nicht seine Art, und außerdem zu bindend für einen Vertreter der skeptischen Generation. »Ein bißchen vorsichtig ist man ja immer gewesen«, philosophiert er über das Leben unter Honecker, dann verabschiedet er sich freundlich, aber bestimmt, das Leseexemplar unter den Arm geklemmt. »Du sollst immer würdig und gelassen bleiben«, hat in seiner Jugend das elfte Gebot geheißen. Thomas Groß