Bis daß der Morgen graut

■ Seit einer Woche wieder Woche für Woche: Die »Macht der Nacht«

Freitag vor einer Woche: In der Halle ist es kalt. Unbeirrt stehen die Schönen der Nacht im dahingehauchten Stretchkleid oder goldbesetztem Bikini über der schwarzen Hose mit Schlag hinterm Tresen. Was sind schon Minusgrade, wenn es um entscheidende gesellschaftliche Ereignisse geht. Pünktlich zum Frühlingsanfang, der sich im gewohnt mitteleuropäisch- deutschem Charme mit heftigsten schauerartigen Regenfällen zeigt, startet der Partyvirus seinen Eroberungsfeldzug unter den angehenden Hauptstädtern. Mangels eintreffender Zuschauermassen muß der Programmstart um Stunden nach hinten verlagert werden. Man geduldet sich in Mantel und Schal gewandet bei Sekt und Bier, führt zu dröhnendem Techno- und Discosound leicht beschränkte Konservation. Vereinzelt wird getanzt. Dann prescht das Lichtmixteam vor, läßt konzentrische Ringe und Sterne in rot-gelb- grün und quietschrosa über den Betonboden huschen, legt hernach lasergebeamte Strahlenbahnen durch den Raum, die so plastisch wirken, daß man darauf in den Technohimmel gleiten möchte. Der Berolinachor, eine biedere Truppe von Hausfrauen jenseits der Menopause, brüllt ein mehrstimmiges Halleluja von der Hallenbühne, hat aber wenig Erfolg gegen das Dröhnen der Konserve. Dessen ungeachtet verfolgt sie der frenetische Applaus des Publikums. Panterra und ihre Gespielinnen als geheimnisvolle Feen der Hölle in braun und schwarz, die metallenen Fangarme von kleinen Fackeln gekrönt, dazu Zwitterwesen aus der Unterwelt, von dünnen Streifen roten Latex' kaum verhüllt und Graf Dracula, der von der Hallendecke gleitet — sie alle führt ein Höllenwagen mit überdimensionalen Rädern durch die Menge. Schichtwechsel — die Touris gehen, die Szene kommt, die Stunden zuckenden Leiber und chemomanipulierter Ekstase sind im Anmarsch.

Im Mai 1987 feierte »die Macht der Nacht« ihr Debut im Zelt am Funkturm. Seither geisterte der Schreck aller Discobesitzer durch die Sommerlöcher westdeutscher Großstädte und gab 91 in Paris sein erstes Auslandsgastspiel. Auch dieses Jahr wollen die Veranstalter bis in den August hinein von Freitagnacht bis Sonntagmorgen das Partyfieber am Kochen halten. Ob's gelingt, die Massen an den Arsch von Berlin, ins hinterste, von U- und S-Bahn unerschlossene Weißensee zu locken, wird sich zeigen.

Wir von der Rentnerfront der rüstigen Mittdreißiger appellieren ans Partyvolk: Macht aus der Macht der Nacht kein Grauen im Morgengrauen. Wir wollen sie nicht sehen, die Falten und Krähenfüße, die das Sonnenlicht früher Morgenstunden hinter der Make-upschicht hervorlockt. Wir wollen der Eroberung dieser Nacht nicht erst zu Zeiten, da die Strassen von Sonntagsspaziergängern blockiert sind, die Anekdötchen von unserer Briefmarkensammlung ins dezibelgeschädigte Ohr brüllen. Meine Güte, wir wissen einfach nicht, wie wir diese endlose Zeit rumkriegen sollen: zwischen Sonnuntergang und der Stunde, vor der man sich auf keiner Party blicken lassen kann, wenn man »in« sein will. Antje Braunschweig