■ PREDIGTKRITIK: Der Kardinal kommt
Die schwirrenden Blaulichter der Polizeieinsatzwagen über dem nächtlichen Südstern lassen das Schlimmste befürchten. Doch diesmal kommen sie in friedlicher Absicht: Katholiken auf ihrem Bußgang 92.
Vorneweg ein Holzkreuz, dahinter rund 200 Gläubige. Sie strömen der Sankt-Johannes-Basilika entgegen, in der sich an diesem Abend die bußfertigen Gläubigen auf die letzten leeren Plätze drücken, und selbst um die besseren Stehplätze gibt es noch Gedrängel. Eine Gedenktafel an einer Säule erinnert an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges: »So wollen auch wir unser Leben geben.« Über den Punkt hat jemand ein kleines Fragezeichen gemalt.
Plötzlich formieren sich die Gläubigen in den Reihen, erwartungsvolle Stille beherrscht die Basilika. Die Türen öffnen sich, und herein tritt das halbe bischöfliche Ordinariat: Ein Dutzend Geistliche defiliert an den Gläubigen vorbei, diesmal wird vorneweg die Heilige Schrift getragen. Dahinter der Hirtenstab samt des Kardinals Georg Sterzinsky mit Mitra, der dem Einzug der Geistlichen eine flüchtige, fast transzendente Würde verleiht — ganz so, als käme Petrus persönlich.
Aus hunderten katholischer Kehlen ertönt dazu ein inbrünstig vorgetragenes Kirchenlied, sei es, um der Mystik des Augenblicks etwas entgegenzusetzen, oder um sich dem Kardinal als treue Schafe zu erweisen: Einer kniet auf dem blanken Kirchenboden, ein paar Mädchen tuscheln und kichern auf polnisch, dagegen verharren die Gläubigen asiatischer Herkunft in stoischer Miene: Bei dieser Messe handelt es sich um eine multikulturelle Veranstaltung, hier vermischt sich das Fremde mit dem Heimischen, so der Duft von morgenländischem Weihrauch und deutschem Bier. Und der Kreuzberger rätselt bei den fremdsprachigen Einschüben in das liturgische Geschehen, um welche Sprache es sich da wohl wieder handelt, läßt sich aber davon nicht weiter irritieren.
Im Evangelium des Lukas geht es um das Gleichnis des barmherzigen Vaters, der seinen verlorenen Sohn ohne weitere Fragen wieder in die Arme schließt. Dieses Gleichnis stelle, so der Kardinal, der für die Predigt würdigen Schrittes die Kanzel erklommen hat, ein Evangelium im Evangelium dar, wobei ihm nur zuzustimmen ist. Selten wird so einleuchtend klar, daß es sich beim Glauben nicht um Geben und Nehmen wie beim Kuhhandel dreht: Da baut einer den größten Mist, und trotzdem wird ihm vergeben. Das ist wahre Barmherzigkeit, sagt der Kardinal und zumindest im kleinen gängige katholische Praxis: Die Vergebung gehört zur Sünde wie der Kirchgang zum Sonntag. Eine Praxis, die auch dem Kardinal nicht verborgen geblieben ist, der daran erinnert, daß es keinesfalls ein Recht auf Vergebung gebe, und man solle es nicht übertreiben.
Womit er schon wieder dem katholischen Prinzip gehuldigt hätte: Ein bißchen Verdammnis und ein bißchen Erlösung. Was auch auf die politische Großwetterlage zutrifft: Viel ist geschafft, der eiserne Vorhang gefallen, aber viel bleibt auch noch zu tun: Noch immer führen Christen gegen Christen Kriege, nicht aus religiösen Motiven, Beispiel Jugoslawien oder Nordirland. Leider erweise sich dort die Politik als stärker als der Glauben, und Beispiele gebe es noch viele: Werden die Menschen nicht gleich umgebracht, dann verhungern sie eben. Auch Christen seien schuldig geworden, wofür die Weltkrieg-Gedenktafel in der St.-Johannes-Basilika ein beredtes Zeugnis gibt, aber die erwähnt der Kardinal nicht. Tatsache sei, daß es die Christen nicht geschafft hätten und sich kritisch fragen lassen müßten, ob sie auch ihr mögliches gegeben haben. Aber was könne der einzelne schon tun? — Vielleicht sei der Beitrag des einzelnen gering, aber immerhin: Er könne die Verschiedenartigkeit des anderen — sprich Türken, Polen, etc. — akzeptieren, ohne ihn gleichmacherisch integrieren zu wollen.
Trüge er nicht die Mütze auf dem Kopf, könnte man fast meinen, hoch auf der Kanzel stünde nicht der Kardinal, sondern unser Bundespräsident: Der kann auch schön reden und das Tagesgeschäft anderen überlassen. Lutz Ehrlich
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