Miniaturtanz im Morgenmantel

■ »Mademoiselle Else« — Französisches Gastspiel im Maxim-Gorki-Theater

Die im Wettlauf um die Moderne in Frankreich geförderte Hochgeschwindigkeitstechnik hat nunmehr die Bühne erreicht. Waren Concorde und TGW der deutschen Mobilität schon immer um Längen voraus, so hat nun eine virtuose Schnellsprechkunst neue Maßstäbe für die Bühnenkonventionen gesetzt. Freilich wird es lange dauern — in diesem Fall sogar ohne den Widerstand der Grünen — bis auf einem Theater, das noch immer die Ästhetik der heißen Kartoffel als avantgardistisch begreift und dem ausgiebig gekauten, abgeschmeckten und gewendeten Wort huldigt, eine auf Rasanz und Minimalzäsur setzende Wortakrobatik Anklang finden wird.

Arthur Schnitzlers Fräulein Else, verkörpert von der französischen Schauspielerin Dominique Valentin, wurde im Maxim-Gorki-Theater denn auch weniger psychologisch, als vielmehr komödiantisch vorgeführt. Schon nach den ersten schulmädchenhaft koketten und unschuldig naseweis heruntergerasselten Sätzen mit den entsprechend komisch verdrehten Augen war klar, welche Schule hier Pate stand: die Mimenausbildung der Ariane Mnouchkine. Unter der auf Uneitelkeit setzenden Regie von Benjamin Korn wurde dem hierzulande üblichen depressiv-verhaltenen Interpretationsstil realistischer Vorlagen ein gestisch-mimischer Miniaturtanz entgegengesetzt.

Nachdem Dominique Valtenin in schwarzem Morgenmantel auf einem Stuhl hinter einem kleinen Tischchen Platz genommen hat, verläßt sie ihn zwei Stunden lang nicht mehr. Und nachdem sie anfangs schülerinnenhaft den gelesenen Text Zeile um Zeile mit dem Finger verfolgt und hinter ihrer runden Nickelbrille eine wirkliche Else, eine 19jährige Wiener Unschuld, vorgestellt hat, wandert sie im Laufe des Abends souverän eine ganze Gesichter- und Lebensaltergalerie ab.

Vom Tennisspiel zurückkehrend findet Else im italienischen Ferienhotel ein Telegramm vor, in dem ihr mitgeteilt wird, daß ihr Vater aufgrund enormer Spielschulden kurz vor der Verhaftung stehe und sie die zu seiner Rettung benötigte Summe doch bei einem der anwesenden älteren Herren erbitten möchte, andernfalls... Else weiß um die möglichen Folgen eines solchen Ansinnens und durchläuft im Zeitraffer ein reiches Gefühlsspektrum, immer schwankend zwischen eigenem Ehrbegriff und der Rücksicht auf die Familie.

Dominique Valentin führt uns dieses als Folge schnell gegeneinander geschnittener Körperzustände vor: Für Augenblicke glaubt man Dreyers Jeanne d'Arc dort auf dem Stuhl sitzen zu sehen, dann eines von Goyas Monstern und wenig später ein Frauengesicht aus der Renaissance. Als sie den Kunsthändler Dorsay mimt, den Else um die fraglichen 30.000 Gulden gebeten hat und der verspricht, ihrem Vater zu helfen — allerdings unter der Bedingung, daß sie sich nackt vor ihm zeigt — bekommt ihr Hand- und Augenspiel etwas expressionistisch Heimtückisches: jetzt ist Murnaus schleimiger Tartüff im Bild. Dorsays als beschämend empfundenes Ansinnen versetzt Else in ein wahres Delirium: in der Überlagerung von Todesgedanken, erotischen Tagträumen und realen Beobachtungen steigert sich Valentin zu furioser, quasi kubistischer Komprimiertheit, die sich erst durch das eigenommene Schlafmittel am Ende langsam löst. Erst da läßt sie allmählich nach in ihrem Parforceritt, mitten im Wort schläft sie ein. Michaela Ott