TAIWAN: SUPERMARKTKETTE AUF BENETTONS FÄHRTE

„Wellcome“ zum Massaker

Taipeh (taz) — Das offizielle Statistische Jahrbuch über Soziale Indikatoren in der Republik China, Region Taiwan weist unter der Rubrik „Demonstrationen“ für 1989 mit 3,4 Millionen eine um mehr als 30Prozent höhere Teilnehmerzahl als in den Jahren davor und danach aus. Der Grund: 1989 fanden auf Taiwan Protestkundgebungen gegen das Juni-Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens statt, der Schock über die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung saß tief.

Doch das ist lange her. In Peking sind inzwischen auch die von der Obrigkeit nicht sofort ausgemerzten studentischen Losungen auf dem Plattenbelag des Tiananmen verblaßt, alte Männer lassen wieder ihre Drachen steigen. Da meinte Wellcome, eine der großen Supermarktketten Taiwans, nicht davor zurückschrecken zu müssen, in ihrer Frühjahrs-Sonderangebotskampagne eine tütenbeladene Hausfrau „Krieg gegen hohe Preise“ (so der Werbetext) führen zu lassen — und zwar unter Verwendung jenes berühmten, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Fotos von einem jungen Mann, der sich am 4. Juni 1989 unter Einsatz seines Lebens einer Panzerkolonne auf der Changan Jie unweit des Peking-Hotels entgegenstellte. In diese Aufnahme über den Mut der Verzweiflung eines einzelnen angesichts brutaler staatlicher Willkür — geradezu eine Ikone der chinesischen Demokratiebewegung und ein bewegendes Dokument ihres Scheiterns (der Mann wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt) — retuschierte die PR-Abteilung besagte Hausfrau hinein und einen roten Klecks mit dem martialischen Reklamespruch. „Natürlich soll das ein Blutfleck sein“, kommentierte ein Wellcome-Sprecher nach Boykottandrohungen einiger Ausländer sowie Protesten einer Handvoll Chinesen die Darstellung, „und wir haben dieses Foto nach reiflicher Überlegung gerade wegen seiner hohen Symbolkraft ausgewählt.“ Man werde sich auch von den „unverständlichen Negativreaktionen von ein paar Leuten“ nicht von diesem Werbekonzept abbringen lassen.

Doch einige Artikel in Taipeher Tageszeitungen griffen die Entgleisung des Wellcome-Konzerns auf. Der bekam kalte Füße, und binnen drei Tagen waren die Plakate, mit denen man die Supermärkte zugepflastert hatte, kommentarlos wieder aus den Geschäften verschwunden. Offensichtlich wird die kritische Presse Taiwans von manchen ihrer Leser durchaus ernst genommen. Christiane Hammer