»Ich schwieg ein ausgezeichnetes Deutsch«

■ Der Schriftsteller Konrad Merz bei den Berliner Lektionen

Einen europäischen Urberliner nennt er sich selbst. Und, in Anspielung auf Brecht: einen Deutschen mit beschränkter Hoffnung. Er lebt seit bald sechzig Jahren in Holland. Noch vor Ende der Veranstaltung lädt er alle Zuhörer zu Reibekuchen (berlinisch) mit Pflaumenkompott (holländisch) ein.

Sein Jahrgang: 1908. Sein Geburtsort: Zwischen Scheunenviertel und Prenzlauer Berg. Seine Berufe: Opernstatist, Kuhstallknecht, Gärtnerkuli, medizinischer Masseur, Schriftsteller. Man ahnt es: Er gehört zu jenen, die zwischen 1940 und 45 »gestorben« sind. Oder die, um zu überleben, zuerst den Alexanderplatz verlassen und später wie er in Schränken hausen mußten, als einziger Jude neben dem gipsernen Christus in einem holländischen Dorf. Nur daß letzterer, was Merz ihm bis heute nachträgt, nie den gelben Stern getragen hat.

Merz nannte diesen Zwang, der ihn zum Schreiben brachte, weil mit ihm keine holländische Kuh noch Blume deutsch zu sprechen bereit war, diese »Zangengeburt einer Zungengeburt« Ein Mensch fällt aus Deutschland. Das Buch erschien 1936 bei Querido in Amsterdam. Es wurde angekündigt mit der Unterzeile: »Sein Vater fiel für Deutschland. Er fiel aus Deutschland.«

Konrad Merz gab solchermaßen am Sonntag im Renaissance-Theater eine biographische Beschreibung schwarzhumoriger Art. Er sei heute denjenigen, die ihn aus Deutschland rausgeschmissen hätten, dankbar, »denn wer hat schon das Glück, aus der Hölle rausgeschmissen zu werden?« Und obwohl sein Lachen vergast worden sei, wie er sagte, war der Aufriß seines Verhältnisses zu Berlin unter dem Titel Der Alexanderplatz kehrt zurück, waren seine Anekdoten aus dem »Eingemachten«, war die Lesung einiger seiner Erzählungen durch Karl Schmidinger mit dem Humor eines begnadet Entrückten getränkt. Er sei Humorist, gestand er denn auch, nicht weil seine Tränen ausverkauft seien und nur ein bißchen Schamröte übriggeblieben sei, sondern weil das Ernste nicht ernst genug sei. In den Erzählungen enthielt er sich indes nicht der Anklage, beschuldigte die Menschen, »das Besserwerden verlernt zu haben«, und Gott, nicht gleichmäßig für alle da zu sein. Als einer, der nicht vergessen könne, daß er noch lebe, obwohl er sechs Millionen Mal ermordet worden sei, erwies er sich als Befürworter der einzigen Internationale, der anzugehören ihm heute noch würdig erschien: der des Lachens.

Literarisch blieb er nach seinem ersten Buch sechsunddreißig Jahre stumm. Erst in den siebziger Jahren erschien sein erstes Buch in Deutschland: Der Mann, der Hitler nicht erschossen hat (Agora Verlag). Und, 1982: Glücksmaschine Mensch (Amman Verlag). Gegenwärtig arbeite er an einer »Liebeskunst für Greise«: Er könne — und wer könne das schon — den Zuhörern im Renaissance-Theater an diesem Sonntagmorgen eine Renaissance des Menschengeschlechts aus einer neuen Eva und einer neuen Liebeskunst prophezeien. Sollte sie etwas mit der von ihm vorher anempfohlenen Rückkehr zur Abstammung vom Affen zu tun haben, die ihm lebensbejahender erschien als die aus der chemischen Brutanstalt?

Schmidinger las abschließend die kurze Novelle Ester. Sie erzählt »die kürzestes Liebesgeschichte des Jahrhunderts«: Ein kurzes Stelldichein zwischen dem Alter ego des Schriftstellers und der 18jährigen Ester, kurz bevor sie mit Tulpen im Arm abgeholt wird. Merz bat das Publikum, danach nicht zu klatschen. Er verbat sich späte Anteilnahme. Der Alexanderplatz ist nicht zurückgekehrt. Michaela Ott