Ideologie der Hoffnungslosen

■ Niels-Peter Rudolph inszeniert Gorkis „Nachtasyl“ in Bochum

Was ist der Mensch?“ — Als Antwort zeichnet Satin, der Falschspieler und deklassierte Bildungsbürger unter Gorkis Asylanten, feixend mit zwei Fingern die Umrisse einer menschlichen Figur in die Luft. Seine Saufkumpane quittieren den Einfall mit Gelächter. Der abstrakte Begriff des Menschen ist nur komisch. Das Programmheft der Aufführung häuft 253 Sätze der Weltliteratur über den Menschen auf einen großen Definitionshaufen. Niels-Peter Rudolph distanziert sich von Gorkis menschelndem Pathos und nimmt dennoch ernst, was Satin seiner luftigen Definition hinzufügt: „Man muß den Menschen achten, nicht bemitleiden.“

Die Aufführung ist sparsam, unaufwendig, karg und zieht aus dieser Armut ihren größten Gewinn. Zwar wird das Geschehen sprachlich durch eine neue freie Übersetzung und auch dem äußeren Anschein nach aus dem Rußland von 1902 in unsere Gegenwart geholt, aber ohne Aktualisierungszeigefinger. Graue Wände begrenzen die Bühne: irgendein Neubaukeller, eine leerstehende Tiefgarage. Darin hausen die Stadtstreicher auf Paletten und Brettern, schlafen in Pappkartons, schleppen ihre Habe in den unvermeidlichen Plastiktüten herum, tragen abgelegte Kleider aus dem Wohlstandsmüll. Das Betonasyl ist geräumig, und doch drängen sich die Bewohner in der Mitte zu einem wärmenden Klumpen zusammen. Gelegentlich hört man aus der Oberwelt Geräusche: Autos, Hubschrauber, Megaphongeplärre, Flugzeuge und (eine kleine Reverenz an Stanislawskis Uraufführungsinszenierung vor neunzig Jahren) Hundegebell.

Unter Verzicht auf jegliche Konzeptionshuberei oder Symbolbebilderung konzentriert sich die Aufführung auf die einzelnen Figuren, das heißt für die Regie: auf die Schauspieler. Ihre Fähigkeiten werden entfaltet. So entsteht in dieser abstoßenden, trivialen Szenerie ein Sog, der auch nach drei Stunden noch nicht nachläßt. Gorkis Botschaft wird dort, wo sie explizit wird, ironisiert, aber im Spiel beglaubigt.

Das Bochumer Schauspielerensemble kann seine Stärke zeigen: seine Homogenität. Schon die Struktur des Stückes begünstigt das, die handlungsarme Szenenfolge ohne Protagonisten, in der immer verschiedene Gespräche gleichzeitig laufen, sich nur dann und wann einer nach vorne schiebt und ein Solo spricht, um wieder anderen Platz zu machen. Vom Rand des Stückes rückt zum Beispiel in die Mitte: Wassilissa, die Frau des Vermieters dieses Kellerlochs. Bernadette Vonlanthen zeigt eine haltlose Figur mit unbändiger Energie. Sie schlurft in Pantoffeln über den Beton, zum Fürchten. Sie krallt sich im roten Unterrock an ihrem Geliebten Wassja fest, zum Heulen. Fahriges Gejammer und belfernder Befehlston liegen keine Sekunde auseinander, eine Frau, die immer zwei Bewegungen gleichzeitig macht. Oder Zecke, der Schlosser (Volker Mosebach), ein langer, krummer Kerl, für den die Welt schief steht. Seine Aggressionen versteckt er in seinem wackligen Gang und in hilflosem Armgefuchtel, bis er im dritten Akt explodiert und seine Tirade gegen die Wahrheit vorzappelt, ein Wortkrampf, der sich nicht löst.

Demgegenüber sind die traditionellen Starrollen des Stückes eher zurückgenommen: Luka, der Pilger (Wolf Redl), den die alte Inszenierungstradition noch als Erlöserfigur ernstnahm, ist ein grauer Alter, unauffällig am Rande postiert. Ins Zentrum gerät er nur bei seinen Erzählungen, dann spricht er leise, aber mit einer körperlichen Erinnerung in jeder kommentierenden Geste, daß er die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Satin (Wolfgang Michael) hat in dieser Passion nach dem Evangelisten Gorki zunächst nur einige Rezitative und begleitende Partien. Seine Schlußarie wird dann zum Höhepunkt. An einem aus Brettern improvisierten Tisch sitzen die elf Jünger nach dem Verschwinden ihres Meisters Luka. Gedächtnisreden auf den Alten werden gehalten. Brot wird gereicht, statt Wein trinkt man aber doch eher Wodka. Satin ist der ketzerische Oberjünger. Besoffen gibt er seine Sentenzen zum besten: „Der Mensch ist frei... Der Mensch ist die Wahrheit.“ Das Pathos dieser Sätze wird zersetzt durch die ironische Distanz, mit der sie gesprochen werden. Der Bochumer Satin sagt das alles, um zu prahlen, um sich vor den anderen zu behaupten, als Spaß, wie andere Leute Judenwitze erzählen. Er kann nicht zugeben, daß er meint, was er sagt. Luka, die Tolstoi-Imitation, ist in der Inszenierung, wie schon bei Gorki, eine zwielichtige Figur. Wenn dann „der Schauspieler“ (Oliver Nägele) aufsteht vom Abendmahl, hinausgeht und sich erhängt, ist er nicht der Verräter, sondern der Realist.

Die Inszenierung beläßt das Stück nicht im Nebel der Humanitätsduselei, sie desavouiert noch die letzte Schrumpfideologie der Hoffnungslosen: daß es doch gut ist, ein Mensch zu sein. Gerhard Preußer

Maxim Gorki: Nachtasyl. Schauspielhaus Bochum. Regie: Niels- Peter Rudolph, Bühne: Wolf Redl. Mit Bernardette Vonlanthen, Volker Mosebach, Wolf Redel u.a. Weitere Vorstellungen: 3., 4., 10. und 24.April.