Denunziation der Macht

■ Hans-Thies Lehmanns Untersuchung der antiken Tragödie

Als Peter Stein an der Schaubühne die Orestie des Aischylos inszenierte, sprühte Steins Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann einen der zentralen Sätze der antiken Tragödie an die Berliner Mauer: „Durch Leiden lernen“. Das war natürlich nicht als antikommunistische Parole gemeint. Eher formuliert es den Punkt, wie man im zwangzigsten Jahrhundert einen Zugang zur antiken Tragödie findet: mit der schmerzhaften Erfahrung, der Macht ausgesetzt zu sein, und dem Versuch, darauf zu reagieren. Diese Erfahrung der Macht macht Hans- Thies Lehmann in seiner Analyse der antiken Tragödie zum zentralen Thema. Lehmann fragt nach dem Verhältnis zwischen Mythos und Tragödie und demontiert eine Reihe traditioneller Deutungen, etwa die Annahme, die Tragödie zeige den Menschen in „tragischen Entscheidungen“ oder die Vorstellungen, die Tragödie stelle lediglich den mythischen Stoff ohne Brechungen dar.

Lehmann fragt mit dem Blick eines Theaterwissenschaftlers nach der Signifikanz der szenischen Form. Die Wahrnehmung der theatralischen Spielform — und nicht, wie üblich, lediglich der überlieferten Texte — zeigt, wie durch die Körperlichkeit der Darstellung der physische Schmerz der Figuren bedeutsam wird. Eine traditionelle Lesart, die den Blick auf den Fabelverlauf verengt, würde diese Dimension des Schmerzes verkleinern und verharmlosen, um die Tragödie zur affirmativen Sinnstiftung zurechtzubiegen. Lehmann vermag zu zeigen, wie die szenische Präsentation eine Auseinandersetzung mit den mythischen Stoffen betreibt und sie völlig anders als das Epos beleuchtet. Was im Epos im Fluß des Geschehens verschwand, wird in der Tragödie zentral: Der „Augenblick, wo der Mensch sein Leiden in einer ersten Geste überhaupt sich vor Augen stellt“. Dieser Moment der „Bewußtwerdung“, die „schockierend unverhüllte Konfrontation des Menschen mit der mythischen Zwanghaftigkeit seiner Lage“, wird erstmals im Theater erfahrbar: „Der exponierte Körper (...) schreit seine Ohnmacht hinaus, die sich als die Realität des Subjekts erweisen wird.“

Diese Wahrnehmung des Leidens löst einen Perspektivwechsel in der Erfahrung von Macht aus: Sie wird vom Opfer aus sichtbar, wird zur Infragestellung der Macht. Die politische Dimension dieses Vorgangs ist enorm; schließlich ist die in der Tragödie formulierte Denunziation der Macht zugunsten des Versuchs, sie affirmativ als Zeugnis einer „göttlichen Ordnung“ zu interpretieren, gründlich verdrängt worden. Es bedurfte des an Adorno und Foucault geschulten Blicks Lehmanns, sie wahrzunehmen.

Lehmann verbindet das Leiden des Ohnmächtigen, das die Tragödie in ihren Blick rückt, mit der Entdeckung des Subjekts, in der er das eigentliche Verdienst der Tragödie sieht: „Die Tragödie ist die Form einer Bewußtwerdung über die Macht auf allen Ebenen (...), weil sie einen Diskurs entfaltet, in dem das Subjekt sich entdecken kann, indem der Mensch sich als Oper erfährt.“ Nicht „in seiner Freiheit, in seiner Ohnmacht artikuliert sich zum ersten Mal auf der tragischen Bühne das Subjekt“. Das Subjekt, von dem Lehmann spricht, meint nicht, was Freud „seine Majestät, das Ich“ nennt, es ist das dezentrierte, sich selbst nicht durchsichtige Subjekt Lacans, ein „Ort der Frage, der Ungewißheit, des zögernden Hervortretens aus einer zuvor fraglos hingenommenen Einbindung“.

Nicht allein die analytische Kraft der Untersuchung macht sie zu einem Fremdkörper innerhalb der deutschsprachigen Beschäftigung mit der antiken Tragödie. Sie kommt zudem verspätet. Lehmann kann sich an zentralen Punkten auf die Arbeiten der Pariser Anthropologen und Religionswissenschaftler Jean- Pierre Vernant und Pierre Vidal-Naquet beziehen, insbesondere auf ihre Bücher Mythe et tragédie en Grèce ancienne. Es ist vollkommen unverständlich, daß diese Arbeiten, die einen grundlegenden Neuansatz im Verständnis der antiken Tragödie markieren, noch nicht übersetzt sind und hierzulande nur spärlich rezipiert werden. Wenn ich es richtig sehe, unternimmt nach Christian Meiers nur an Teilaspekten interessierter Lektüre (Die politische Kunst der griechischen Tragödie) Lehmann in Deutschland den ersten ernsthaften Versuch einer Auseinandersetzung mit den dort entwickelten Positionen.

Irritierend ist, daß er sich nicht mit ebensolchem Scharfsinn mit den Arbeiten des amerikanischen Wissenschaftlers Charles Segal beschäftigt. Das ist bedauerlich, da Segals Untersuchungen zur griechischen Tragödie (Interpreting Greek Tragedy und Tragedy and Civilization) das Tragödienverständnis in ähnlich radikaler Weise wie die Arbeiten von Vernant und Vidal-Naquet verändert haben. Segal dürfte einer der ersten gewesen sein, der das Instrumentarium, das der Strukturalismus zur Verfügung stellt, für die Untersuchung der antiken Tragödie produktiv machen konnte. Angesichts der methodischen Nähe zwischen Segal und Lehmann ist besonders erstaunlich, daß Lehmann die Thesen Segals, die eng mit den Themen seiner eigenen Arbeit zusammenhängen, nicht aufnimmt. So verlangt Segals Blick auf die Figuren, in denen er weniger „Charaktere“ als „Schnittpunkte“ der „in allen Teilen der Handlung gegenwärtigen Strukturen“ wahrnimmt, geradezu danach, auf Lehmanns Analysen bezogen zu werden. Aber trotz dieser Lücke ist der Rang des aus der Habilitationsschrift des Frankfurter Theaterwissenschaftlers hervorgegangenen Buches unübersehbar. Peter Laudenbach

Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Verlag J.B. Metzler, 232Seiten, 42DM.